Zweiter Teil: Dynamitfass Ungerechtigkeit
„Millionen Menschen können das jetzige Leben nur in der Hoffnung auf ein besseres Leben ertragen.“
Heiner Geißler
Das Verhältnis von Wohlstand und Armut bleibt spannungsgeladen und hält uns die Dringlichkeit aller anderen Aufgaben vor Augen. Die Krise des Neoliberalismus wurde zunächst gar nicht in der Gefahr für die Demokratie gesehen, wenngleich der Bürger nach und nach zum Politik-Konsumenten verkümmerte. Das Dynamitfass Ungerechtigkeit zeigt sich heute jedoch zunehmend als demokratiegefährdend. Dass Konsum nicht glücklich macht, sollte sich mittlerweile bis in den letzten Winkel der Gesellschaft herumgesprochen haben, was freilich längst nicht bedeutet, dass es leicht sei, von dieser Droge runterzukommen, gewiss nicht. Wir Menschen sind mit der Funktion Konsum nicht nur, aber vor allen Dingen als Motor einer wachstumsabhängigen Wirtschaft eng verwoben. Damit wäre auch geklärt, dass Konsum bei Lichte nur wenig mit Freiheit zu tun hat.
Wir könnten es dabei belassen, im kollektiven Rauschzustand zu verweilen, wäre da nicht der Hasenfuß, dass sich die Illusion zunächst für einige Wenige spätestens in den 1980er Jahren, dann nach und nach für immer mehr Menschen begann aufzulösen, nämlich wenn sie merken, dass sie es in diesem Leben nicht mehr zu stetig wachsendem Wohlstand und steigendem Status bringen werden. Schlimmer noch, dass sie erstens im Vergleich zu den Reichen, Schönen und blutjungen YouTube- und Instagram-Influencern immer weiter ins Hintertreffen geraten und zweitens, dass die Kehrseite des neoliberalen Transzendenzversprechens ihnen suggeriert, sie allein seien für ihr Versagen verantwortlich. Dann nützt es auch nicht, sich in Wutbürger-Filterblasen mit Feindbildern und im Eliten-Bashing die Illusion einer zweifelhaften Selbstwirksamkeit zu verschaffen. Sie bleiben Opfer und aus dieser Nummer kommen sie nicht mehr heraus.
Das neoliberale Transzendenzversprechen und die soziale Marktwirtschaft waren Stiefgeschwister, die sich prima vertragen haben. Doch der verlorene Sohn Kapitalismus war nie wirklich weg und hat sich nach dem Ende des kalten Krieges seinen Platz in der Familie endgültig zurück erobert. Nachdem die große Schere in der Verteilung von Wohlstand im 20. Jahrhundert nivelliert wurde durch weltkriegsbedingte Kapitalvernichtung, Inflation und Währungsreform, vor allem aber durch die Bildung von leistungsfähigen Sozialsystemen auf Basis von Umverteilung u.a. durch zeitweilig sehr hohe Spitzensteuersätze, geht sie seit 1970 wieder auseinander. Vor dem Ersten Weltkrieg betrug das Wirtschaftswachstum 1-1,5%, während die Kapitalrendite jährlich 4-5 % einfuhr. Das 20. Jahrhundert bildet welthistorisch eine Ausnahme, in dem auch das Wirtschaftswachstum so hoch sein konnte. Der französische Volkswirt Thomas Piketty hat in seiner Auswertung von Datenreihen mehrerer Staaten und Vergleichen über sehr lange Zeiträume ebenso festgestellt, dass ein höherer Spitzensteuersatz nicht etwa mit einer geringeren, sondern eher mit einer höheren gesamtwirtschaftlichen Produktivität einher ging. War eine moderat gleichmäßige Verteilung wahrscheinlich sogar der grundlegende Garant für den Bestand der Demokratie, so ist sie auch deshalb gefährdet, weil sich Vermögen aus der Vergangenheit schneller rekapitalisieren, als Produktion und Löhne wachsen, was die Mehrheit, die das betrifft, als schreiende Ungerechtigkeit empfindet. Je stärker diese Ungleichung ausfällt, desto eher verwandelt sich ein Unternehmer in einen Rentier.
Die Vergangenheit frisst die Zukunft. Die Vereinigten Staaten waren noch bis Ende des 19. Jahrhunderts eine ausgesprochen egalitäre Gesellschaft, in der sich Reichtum noch nicht wie in Europa durch eine lange Geschichte der Vererbung von Generation zu Generation bilden konnte. Europa ist nach wie vor der Kontinent mit den größten Privatvermögen, hat aber die größten Schwierigkeiten, seine Staatsschuldenkrise zu bewältigen. Die Gleichheit der Einkommensverteilung ist am höchsten in Dänemark, gefolgt von Schweden und Japan. Der Anteil der Milliardäre ist in Deutschland und Kanada nach den USA am zweithöchsten.
Als sich die neoliberale Philosophie an den Business Schools um 1980 nahezu konkurrenzlos durchgesetzt hatte, glaubte man wirklich, damit die ganze Welt von der Armut befreien zu können. Heute fast vergessen ist der Wettbewerb der Supermächte neben dem militärischen auch auf dem Gebiet des Wirtschaftssystems um die erst wenige Jahre zuvor aus der Kolonisation befreiten Staaten auf dem afrikanischen Kontinent, den fortan so genannten Entwicklungsländern. Es ging darum, wer aus der Dritten sich lieber der Ersten oder der Zweiten Welt anzuschließen beabsichtigte. Leider entwickelten sich die 1980er Jahre für viele Entwicklungsländer katastrophal. Sie hatten hohe Kredite aufgenommen, um in den Bergbau zu investieren. Sie setzten auf stetig steigende Rohstoffpreise. Als die Preise aber sanken, stiegen die Zinsen und die Entwicklungsländer sind seit jenen Jahren in einer unlösbaren Schuldenkrise gefangen. Der arme Süden hat Geld-Schulden beim reichen Norden. Der Grund: Der reiche Norden bedient sich seit Jahrhunderten an den natürlichen Ressourcen des Südens (Boden, Arbeit). Der Ausgleich erfolgt über die Kapital- und Grundbesitz-Ebene, führt aber keineswegs zu einem gesunden Gleichgewicht.
Wenn die Überlebensbedürfnisse der einen die Komfortbedürfnisse der anderen bedrohen, beginnt die Kernschmelze himmelschreiender sozialer Ungerechtigkeit. Leider wird dieser Hinweis mitunter als „Neiddebatte“ fehlinterpretiert. Wer sich für Chancengleichheit und (Steuer-)Gerechtigkeit einsetzt, tut dies nach meiner Erfahrung kaum aus dem Motiv des Neids heraus. Der tut dies nicht mit der egozentrischen Trotzhaltung „Wenn ich nicht so reich sein kann wie du, sollst du eben so arm sein wie ich.“ Wer dies jemanden unterstellt, muss schon sehr weltfremd sein. Tatsächlich geht es um die Sorge, dass die Ungleichheit auf unserem Planeten auch zu ökologischen und politischen Verwerfungen führt. „Niemand hat das Recht, die Welt von jemand anderem zu verbrauchen, und niemand hat das Recht, die Lebenschancen anderer Menschen einzuschränken.“ (Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, 2010)
Wir leben auf einem „vollen Planeten“, manche sagen sogar er sei überfüllt. Früher lebten auch die Armen auf einer robusten und fruchtbaren Erde. Das ist heute nicht mehr der Fall. Dass alles irgendwie schon so weitergehen könnte wie bisher, ist ein Aberglaube. Und dabei geht es denjenigen, die auf Kosten anderer Leben nicht einmal gut damit: Nach einer You-Gov-Umfrage in Großbritannien gaben 37 Prozent der Menschen mit höherem gesellschaftlichen Ansehen an, dass ihre Arbeit keinerlei Sinn habe. Mit anderen Worten: Diejenigen, die Müll produzieren, werden zwar sehr gut bezahlt, fühlen sich damit aber nachweislich unwohl, während jene die den Müll wegräumen und schlecht bezahlt werden, sichtlich etwas sehr sinnvolles tun. Die meisten unterschätzen die tiefe Verwobenheit zwischen Ökonomie und Kultur. Dabei führt eine enthemmte Wachstumsgesellschaft dazu, dass immer mehr Menschen zu viel arbeiten, um sich Dinge kaufen zu können, die sie nicht brauchen, damit die Umwelt ruinieren und das Ziel eines erfüllten Lebens verfehlen.
Dieser Artikel ist der zweite von insgesamt vier Teilen. Ein Auszug aus dem gerade erschienenen Buch „Deutschland in der Krise. Nur durch eine weise Politik zu überwinden.“
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