Oder: Pseudo-konservativer Offenbarungseid
Nicht erst seit dem EM-Gruppenspiel Deutschland gegen Ungarn distanzieren sich einige Menschen von Deutschland. Sie verhalten sich contra-patriotisch, sie wandern aus, sind Steuerflüchtlinge, werden Selbstverwalter oder Reichsbürger. Dabei bestätigen sie am eigenen Beispiel, was sie selbst stets geleugnet haben: Die Identifikation mit einer Nation machen wir Menschen vor allem von den Werten abhängig, für die diese Nation in unseren Augen steht. Ein Bekenntnis zur Nation ist also auch bei selbsternannten Patrioten nicht selbstverständlich, genauso wenig wie eine Distanz zur eigenen Nation etwas mit Selbsthass zu tun hätte. Um dennoch die Illusion des Nationalstolzes aufrecht zu erhalten, wird das bestehende Deutschland als ein „falsches Deutschland“ deklariert, es sei besetzt, linksgrünversifft oder irgendetwas außerhalb meiner konservativen Phantasie.
Der moderne selbstkritische wertebewusste Patriotismus hat wenig mit einem Nationalmasochismus im Sinne von Heimo Schwilk zu tun, den dieser in seiner Rezension zum Buch Hitlers willige Vollstrecker von Daniel Goldhagen vor 25 Jahren in Junge Freiheit denjenigen attestierte, die sich kritisch mit dem Dritten Reich auseinandersetzen. Ebensowenig haben wir es mit einer „entarteten Fernstenliebe des moralischen Universalismus“ zu tun, von der etwa zur selben Zeit Botho Strauß in seinem Anschwellenden Bockgesang tönte. Die Logik dahinter: Man müsse die Welt zwischen Freund und Feind aufteilen: Bin ich gut zu Ausländern, bin ich zwangsläufig gegen Inländer. Was für ein Irrsinn! Das tief verwurzelte Ethos der Gegenseitigkeit hat sich im Lauf der Kulturgeschichte zum Humanitarismus globaler Solidarität ausgeweitet, weil sich Menschen medientechnisch einen enorm erweiterten sozialen Wirkungskreis erschlossen haben, der eine ökonomische wie ökologische Wirkungskreis-Erweiterung im Rucksack trägt. Strauß missverstand dies als Fremdenfreundlichkeit nicht um der Fremden willen, sondern aus „Grimm und Zerstörungsfreude gegenüber dem Unsrigen“ – abwegiger könnte man den kritischen Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte bis hin zum punkigen „Deutschland halt’s Maul – es reicht!“ nicht fehldeuten.
Rechtskonservative stellen einmal mehr auf dem Glaubenssatz ab, Weltoffenheit und kulturelle Transformationsbestrebungen progressiver Kräfte – ich schreibe absichtlich nicht „Linke“, weil sie auch sich als „liberal“ beschreibende Kräfte umfasst – hätten im geistigen Impetus der 68er ein „Zerstören des Eigenen oder Unserem“ im Sinne. Dabei fühlen sie sich vielmehr dem Geist der Willy-Brandt-Ära und dem darauf aufbauendem kulturellen Grundverständnis, einem vitalen, weltoffenen und ökologisch verantwortlichen Deutschland verpflichtet. Gegenüber den heutigen revolutionären Kräften – von den hippiesk naiv-basispolitischen Querdenkern bis zu rechtsextremen Umsturzphantasten – sind sie es, die konservativ im ursprünglichen Sinne sind. Doch im Gegensatz zu den Konservativen der frühen Kohl-Ära beabsichtigen sie nicht, den Geist von 1948 wiederzubeleben, sondern sind bestrebt, den Geist eines seit den 1970er Jahren sich immer wieder erneuernden Deutschlands zu bewahren.
Insofern ist auch das Bekenntnis zu den Rechten von LGBT-Menschen nur in den Augen von emotional massiv aus der Balance geratenen Wirrköpfen „deutsch-“, „ungarn-„ oder „männerfeindlich“.
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