Brennendste Probleme der Politik

Am 26. September ist Bundestagswahl. Die meisten Parteien führen einen ziemlich antiquierten Wahlkampf: Klientelpolitik, die vorgibt, das Wohl der gesamten Gesellschaft im Auge zu haben, Diffamierungen des politischen Gegners auf der persönlichen Ebene und das Aufblasen von Nebensächlichkeiten im Dienste der Medienpräsenz.

Darüber, ob die Aussagen und Behauptungen der einen bezüglich der anderen kampftaktisch sind, auf Unkenntnis oder schlicht mangelndem Vorstellungsvermögen beruhen, fälle ich kein Urteil.

Ich schaue mir die politische Landschaft anhand von Modellen an, die auf pseudopsychologische Typologien und projektive Unterstellungen verzichten. Politische Standpunkte betrachte ich nicht identitär, also kultur-, bildungs- oder klassentheoretisch, sondern begreife sie als Entscheidungen auf Grundlage von Selbst- und Menschenbildern, weil diese dynamisch und veränderlich sind.

Das folgende Schaubild kombiniert die Ebenen der Spirale Dynamics mit brennenden Problemen, die die jeweiligen politischen Anschauungen als gesellschaftlich zentral relevant erachten. Hier wird sichtbar, dass eine politische Haltung nicht in erster Linie von Fakten, Bildung oder statischen Charaktereigenschaften (oder gar der Sozialisation) eines Politikers bzw. seiner Wähler abhängt, sondern vom jeweiligen Betrachtungsfokus. Was den wiederum bestimmt, darüber darf jeder an dieser Stelle selbst spekulieren.

Brennendstes Problem Politik

 

Sekten bieten Verbundenheit in der Gemeinschaft, helfen das Gefühl der Einsamkeit zu vertreiben und liefern eine spirituelle Welterklärung.

Der Libertarismus hat im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und in Großbritannien auf dem europäischen Festland keinen guten Stand. Ihm eilt der Ruf nach, Freiheit sei ein Verdienst der Starken, während Schwäche ein Makel sei, das der freie Markt von der Welt hinfort regeln würde. Libertäre Menschenbilder finden wir hierzulande in Teilen der AfD, der FDP und bei Xavier Naidoo. Die Grenzen zum Sozialdarwinismus (Herbert Spencer), zum Anarchokapitalismus (Murray Rothbard) und zur „Objektivismus“ genannten Ideologie (Ayn Rand) sind in der Praxis unsichtbar.

Rechte Bewegungen speisen sich unterschiedlich stark aus libertären, oft zusätzlich autoritären Konzepten sowie mehr oder weniger festgelegten Vorstellungen davon, was richtig und was falsch, wer zum Volk gehöre und wer Volksfeind sei. Weshalb neurechte Bewegungen erstarken, erkläre ich an anderer Stelle.

Kirchen bearbeiten ganz im Gegensatz zum Libertarismus in erster Linie kollektive Bedürfnisse und nur ganz am Rande individuelle. Allein innerhalb der christlichen Kirchen gibt es bereits größere Unterschiede etwa zwischen der calvinistischen Lehrart und der katholischen Soziallehre.

Die kommunistische Ideologie versprach, Widersprüche zwischen gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen in einer Synthese aufzulösen. Gelungen ist das nirgends, sondern hat vielmehr das Gegenteil bewirkt.

Der klassische Liberalismus des 19. Jahrhunderts kann als domestizierte Form des Libertarismus angesehen werden, wenngleich sich letzterer erst später entwickelt hat, sozusagen als Antwort auf die Krise des klassischen Liberalismus ab dem Ersten Weltkrieg.

Daraus entstand der Neoliberalismus kurz vor dem Zweiten Weltkrieg als Mittel gegen zu viel Staat. Gemeint sind damit aber weniger autoritäre Regime oder Diktaturen, sondern vielmehr das Durchgreifen demokratischer Prinzipien und Verwaltungen zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen wie etwa Roosevelt’s New Deal und nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik nach dem Konzept von John Maynard Keynes. Sowohl Libertarismus als auch Neoliberalismus haben nur ein einziges Motiv: die Freiheit von jeglichen bedrohlichen Einschränkungen zu verteidigen. Das Ergebnis sind die von Kritikern so genannten „entfesselten Märkte“ und das „Diktat des Kapitalmarktes, welcher die Realwirtschaft zur Geisel genommen“ habe. Was ich darüber denke, habe ich in einer Artikelreihe erläutert.

Neue Linksbewegungen blicken auf die Kollateralschäden des Neoliberalismus und wollen diese heilen. Ob deren Konzepte wirklich dazu geeignet sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. Aus libertärer und neoliberaler Sicht ist kein Unterschied zu Kommunismus oder Planwirtschaft zu erkennen, was mit Blick auf die Entfernung beider nur allzu verständlich ist (Siehe Abbildung).

Systemischer Liberalismus hat nichts mit Systemtreue zu tun, sondern versteht sich auf die Eigendynamiken gesellschaftlicher Sub-Systeme und deren Wechselwirkungen. Aus der Perspektive eines systemischen Liberalismus’ sind weder Ungerechtigkeit noch bedrohte Freiheit die brennendsten Probleme. Beides sind lediglich beobachterabhängige Symptome des eigentlichen Problems: der unvollendeten Individuation. Mit anderen Worten: Politik und Wähler agieren wie Kinder und pubertierende Jugendliche. Deshalb werden Populisten gewählt, verfangen Schmutzkampagnen im Wahlkampf, werden politische Wettbewerber überhaupt als „Gegner“ oder gar „Feinde“ betrachtet, wird vergessen oder geleugnet, dass auch sie Teil derselben Gesellschaft sind.

Es gilt zu verstehen, dass keine der politischen Richtungen ursprünglich bösartig ist – in der Tat wurden sie es in der praktischen Durchführung wie Hitler, Lenin, Stalin oder Mao zweifelsfrei vorgeführt haben –, sondern dass sie nur ein jeweils als brennend betrachtetes Problem adressieren und blind für alles andere geworden sind. Als Lösung bieten sie ein Versprechen, das auch nur dann politisch wirklich erfolgreich sein kann, wenn es über die unmittelbare Kampagne („Brot und Frieden“ bei den Bolschewiki oder „Klimaziele erreichen“ bei manchen heutigen Parteien) hinaus ein Transzendenzversprechen liefert. Diesbezüglich sind neurechte Bewegungen zur Zeit im Vorteil. Mir wäre sehr daran gelegen, wenn dies nicht dabei bleibt.

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