Chaos im Kopf
Gefühlt wird alles immer schlimmer. Und weil es sehr verbreitet ist, einen kausalen Zusammenhang zwischen Lebensumständen und regierenden Politikern herzustellen, hört man häufig, die Ursache für Verschlimmerungen sei die Verschlechterung der Qualität der regierenden Politiker. Solche Behauptungen, die teils von prominenten Personen aufgestellt werden, und die konstatierten kausalen Zusammenhänge habe ich an anderer Stelle in Zweifel gezogen. Deshalb ist das hier nicht das Thema. Fragt man die Menschen, was die dringendsten Probleme sind und worin der drängendste politische Handlungsbedarf besteht, können die Überzeugungen sehr weit auseinandergehen: Migration stoppen, Steuern senken, eine Vermögenssteuer einführen, Bürokratie abbauen, die Digitalisierung beschleunigen, die Wirtschaft komplett dem Markt überlassen, Märkte wieder stärker staatlich regulieren, Sozialwohnungen bauen, Schulen umfassend sanieren, Energiepreise subventionieren, Atomkraftwerke wieder hochfahren, ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen, kostenlosen ÖPNV bereitstellen, Neuverschuldung eingehen, Genderstudies abschaffen, die Rüstung stärken, die Rüstung beenden, Renten erhöhen oder mit Russland kooperieren.
Echte Demokratie ist anstrengend
Fragt man Parteien nach deren wichtigster Forderung, dann reicht das Spektrum der Pläne – wenn man denn nach Wahlen mit hinreichender Verhandlungsmacht für mögliche Koalitionen ausgestattet wäre – ebenso weit wie die Lösungsvorschläge vom Stammtisch. Man will ja schließlich volksnah sein. Gegen Demokratie möchte sich (vorerst) keine deutsche Partei von gewisser Relevanz aussprechen. Demokratie ist die Schutzmacht vor Willkür. Am liebsten wird die direkte Demokratie als ultimative Lösung angepriesen. Neun von zehn Deutschen verstehen darunter bundesweite Volksentscheide. Aber zu was? Zu jeder Beschlussvorlage des Bundestages? Das sind 200 pro Jahr, davon 115 Gesetzesvorlagen. Die Beteiligung an möglichen regionalen Volksentscheiden in Deutschland war bislang in der Regel sehr bescheiden. Befürworter ziehen gern die Schweiz als Vorbild heran, in der Hoffnung, dass Deutschland durch die Einführung ihres Wahlsystems vielleicht zu einer größeren Schweiz werden könnte.
Aber direkte Demokratie hat nichts mit plakativen Pro-Kontra-Abstimmungen wie „Für oder gegen Gendern“, „Für oder gegen Atomkraft“, „Für oder gegen Gas aus Russland“ oder „Für oder gegen höhere Rüstungsausgaben“ zu tun. Direkte Demokratie setzt ein aktives Auseinandersetzen mit gesellschaftlichen Streitfragen und deren Pro- und Kontra-Argumenten voraus. So etwas wird bereits länger praktiziert. Nur weiß ein Großteil der deutschen Bevölkerung davon gar nichts. Man müsste sich eben aktiv beteiligen – in Gremien, Bürgerforen, Planungszellen. Aber so etwas nervenaufreibend Langweiliges überlässt man dann doch lieber den „unqualifizierten, praxisfernen und arbeitsfaulen“ Politikern. Und genau so funktioniert das dann auch auf kleinerer Ebene, beispielsweise in Vereinen: Die meisten Entscheidungen trifft der Vorstand, während auf der Mitgliederversammlung nur über wirklich Grundlegendes abgestimmt wird. Aber auch in vielen kleinen Vereinen regt sich gerne einmal Unmut „einfacher“ Mitglieder gegenüber einem angeblich abgehobenen, elitären Vorstand. Eine Geschlossenheit und Macht einzelner Gruppen wird notorisch überschätzt, während unterschätzt wird, wie widersprüchlich Interessen sind und wie wichtig öffentliche Kontrolle im politischen Alltag bleibt. Und weil die eigentliche Debattenkultur in den Gremien so langweilig ist und keinen Stoff für reißerische Memes bietet, finden 95 Prozent des politischen Handwerks außerhalb jeglicher Medien statt. Politik-Management ist an die Stelle wirklichkeitsbasierter Deliberation getreten.
Pluralismus und die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit
Klar, es gibt Defizite in der Repräsentation, die durchaus zu populistischem Protest führen können. Dabei wirkt das dualistische Bild von „Volk gegen Elite“ selbst demokratiefeindlich und ausgrenzend, weil es den nötigen Pluralismus ausblendet. Fakt ist: Demokratien sind reformfähig – sei es durch neue Parteien, erfolgreiche Protestbewegungen oder durch echte Bürgerbeteiligung. Die Kluft zwischen Idealen und Wirklichkeit bleibt bestehen. Demokratische Prozesse sind nach wie vor vielfältig, offen für Reformen und nehmen Impulse von außen auf. Auch außerparlamentarische Initiativen haben erhebliches Potenzial, um politischen Einfluss zu gewinnen. Das parlamentarische System, stabile zivilgesellschaftliche Strukturen und ein breites Spektrum moderater politischer Einstellungen tragen zusätzlich dazu bei, dass gesellschaftliche Konfliktlinien nicht zu tiefergehenden Spaltungen führen.
Spaltpilze und ihre Sporen
Ausgeprägte Polarisierung zeigt sich nur bei speziellen Themen wie Migration, Klima oder Pandemie. Im Allgemeinen bestimmt jedoch weiterhin die gesellschaftliche Mitte das Meinungsbild. Die verstärkte öffentliche Wahrnehmung von Spaltung steht also im Kontrast zu den empirischen Befunden und ist vor allem durch mediale und politische Zuspitzungen erklärbar. Personen, die als Symbole des sozialen Wandels gelten, polarisieren besonders stark, sind aber eher die Ausnahme als die Regel. Die Bewegungen des sogenannten „Dark Enlightenment“-Spektrums betreiben nicht nur einen Kulturkampf, der sich auf Werte und Symbole beschränkt. Inzwischen verbirgt sich dahinter ein umfassenderes politisches Programm, das die Funktionsweise der offenen Gesellschaft in Frage stellt. Dabei geht es nicht nur um klassische Parteienkonflikte oder konservative Kulturkritik, sondern um den Versuch, jene Bereiche anzugreifen, in denen Macht und Geld bislang nicht allein bestimmend waren: Wissenschaft, Justiz oder Bildung. Diese Institutionen sind darauf angewiesen, nach eigenen, autonomen Regeln zu entscheiden – unabhängig davon, wer gerade politische Mehrheiten hat.
Angriffe auf Institutionen und die Autonomie der Demokratie
Teile der MAGA-Bewegung richten sich nicht nur gegen bestimmte politische Positionen, sondern gegen die Legitimität von Institutionen wie Universitäten, Gerichten oder sogar der Notenbank. Die Autonomie dieser Bereiche wird nicht mehr als notwendiger Bestandteil einer pluralistischen Demokratie anerkannt, sondern als Hindernis persönlicher oder parteipolitischer Machtausübung betrachtet. Selbst ökonomische Stabilität, traditionell ein konservatives Anliegen, gerät ins Wanken, wenn die Unabhängigkeit der Federal Reserve in Zweifel gezogen wird und alternative Währungen wie Kryptowährungen aufgewertet werden. Es geht damit weniger um den Wettbewerb verschiedener Ideen innerhalb demokratischer Verfahren, sondern um den Versuch, Entscheidungsprozesse von allgemein verbindlichen Regeln zu lösen und stärker an individuelle Machtinteressen zu binden. Dass diese Tendenz in digitalen Plattformökonomien teilweise bereits Realität ist, verstärkt die politische Brisanz.
Verachtung für Politik und Antiintellektualismus
Verachtung für Politik als Prozess und damit für Argumente als strukturierendes Element einer Debatte; ein Antiintellektualismus, der aus einem technologischen Überlegenheitsgefühl (Techno-Solutionismus) resultiert; und ein extrem ausgeprägtes narratives Bewusstsein, in dem Storytelling als Weltentwurf und Selbstmythologisierung Verwendung findet – all das sind Symptome einer gefährlichen Entwicklung. Diese Tendenzen untergraben die Grundlagen demokratischer Prozesse und fördern eine Kultur, in der Macht und Einfluss zunehmend von rationalen, deliberativen Verfahren entkoppelt werden.
Geopolitische Verwerfungen
In den wohlhabenderen, stärkeren Staaten, zu denen insbesondere die USA zählen, bestehen besondere Erwartungen an das Leben und vor allem an staatliche Institutionen. In den USA äußert sich dies als Anspruch auf den Erhalt des Lebensstandards, also auf Konsum und Energieverbrauch – Kerngedanken des „American Dream“. Diese Erwartungen sind durch die starke wirtschaftliche Verflechtung der USA mit fast allen Ländern der Welt geprägt: den Import von Rohstoffen und Agrarprodukten, Investitionen in ausländische Grundstücke und Unternehmen sowie das Bedürfnis von im Ausland tätigen US-Bürgern nach Schutz durch die eigene Regierung. Nicht selten haben sich deshalb in vielen Ländern lokale Gruppen gefunden, die – sei es aus wirtschaftlichen oder aus humanitären und wertebezogenen Gründen – amerikanische Interessen unterstützen, oft im Vertrauen darauf, dass die USA im Krisen- oder Kriegsfall Schutz und Verteidigung bieten würden. Deshalb sind militärische Interventionen der USA nicht einfach gleichzusetzen mit klassischen Eroberungsfeldzügen. Wenn sich Trump aus diesen internationalen Vernetzungen abrupt zurückzieht, ist er eben nicht der Friedenspräsident, nur weil er seine Truppen abzieht. Tatsächlich lässt er Verbündete im Stich und wirft sie ihren rachsüchtigen Feinden zum Fraß vor.
Die Rolle der Institutionen in einer globalisierten Welt
Die geopolitischen Verwerfungen zeigen, wie stark nationale und internationale Interessen miteinander verflochten sind. Institutionen wie die Vereinten Nationen, die NATO oder die Europäische Union spielen eine zentrale Rolle, um diese Verflechtungen zu moderieren und Konflikte zu vermeiden. Doch auch diese Institutionen stehen zunehmend unter Druck. Nationalistische Bewegungen und populistische Regierungen stellen ihre Legitimität infrage und versuchen, sie zu schwächen. Dabei wird oft übersehen, dass gerade diese Institutionen dazu beitragen, globale Herausforderungen wie den Klimawandel, Migration oder wirtschaftliche Ungleichheit zu bewältigen.
Die Gefahr der Entkopplung von Regeln und Macht
Die zunehmende Entkopplung von Macht und allgemein verbindlichen Regeln ist eine der größten Gefahren für die Demokratie. Wenn Entscheidungsprozesse nicht mehr auf rationalen, transparenten und demokratischen Prinzipien basieren, sondern von individuellen oder parteipolitischen Interessen dominiert werden, droht die Erosion der demokratischen Ordnung. Diese Entwicklung wird durch die Digitalisierung und die Plattformökonomie weiter verstärkt. Digitale Plattformen schaffen neue Machtzentren, die sich oft der öffentlichen Kontrolle entziehen. Gleichzeitig fördern sie eine Fragmentierung der Öffentlichkeit, die es schwieriger macht, einen gemeinsamen demokratischen Diskurs zu führen.
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