Wie wohlstandsverwahrlost ist der woke Westen und welcher Tod darf gefeiert werden?

Ein Meinungsartikel

 

Als ich Anfang 1994 am Ufer der Nordsee ein Bonbonpapier auf die Steine warf, wurde ich von meinen proto-woken Reisebegleitern zurechtgewiesen. Vieles, was ich heute z. B. auf der Achse des Guten lese, erinnert mich an meine Erlebnisse in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Don Beck von Spiral Dynamics hätte gesagt, ich weigerte mich damals noch, das in meinem Freundeskreis aufkommende grüne vMeme auch in mir erwachen zu lassen. Mit anderen Worten: Ich verstehe die Anti-Woken aus eigener Lebensgeschichte und lege ihnen ans Herz, ihre Klischees und Vorurteile durch ernst gemeinte, teilnehmende Beobachtung auf Evidenz zu überprüfen. Wer sich die Grünen vor allem von Julian Reichelt und Ulf Poschardt erklären lässt, erfährt wenig über die Grünen, dafür umso mehr über das Innenleben von Reichelt und Poschardt.

 

Linke Meinungsmache, so wie ihn sich Anti-Wokeisten vorstellen

 

Wenn Tunnel- oder Nebelblick zur Meinung verklärt wird

 

Meiner Meinung nach ist das, was diverse Kreise als „Wokeness“ bezeichnen, keine Wohlstandsverwahrlosung – genauso wenig wie Referenzen auf poststrukturalistische französische Philosophen oder die Postmoderne als Ganzes. Es handelt sich weder um Wohlstandsverwahrlosung noch um Werteverfall – auch wenn auch ich eine Zeit lang postmodernes Design und postmoderne Architektur demonstrativ verabscheut habe. Das war ungefähr dieselbe Zeit, in der ich anfangs versuchte, rechts zu sein, mich dann aber viel in linksprogressiven Kreisen bewegte und mich dort oft wie ein Alien fühlte: einerseits Prolet, andererseits verkopft. „Du denkst zu viel, du fühlst zu wenig.“ „Halt doch einfach die Schnauze und nimm mich so, wie ich bin. Ein anderer steht gerade nicht auf meinem Platz!“

 

Ich habe bei meinen Kontakten zu Linken und Grünen nicht den Eindruck gewonnen, dass diese die Meinungsfreiheit „hassen“. Sie unterscheiden jedoch zwischen einer Äußerung, in der jemand sagt, er finde dies oder jenes ungerecht, schädlich oder was auch immer, und einer Äußerung, die eine Behauptung enthält – etwa über Absichten –, für die es keine Belege gibt. Beispiele: „Merkel hat die Grenzen aufgemacht, weil sie das deutsche Volk hasst und durch ungeregelte Migration vernichten will“ oder „Grüne hassen Deutschland, weil sie sich selbst hassen und jeden hassen, der sein Leben genießen will. Deshalb verbieten sie alles, was Menschen lieben, wie Fleisch essen, schnelle Autos fahren usw.“ oder „Linke wollen Reiche besteuern, weil sie auf deren Reichtum neidisch sind, da sie unfähig oder unwillig sind, einen nützlichen Job auszuüben oder ein Unternehmen aufzubauen. Deshalb werden sie lieber staatlich finanzierte NGO-Aktivisten oder gehen in die Politik; dort können sie ihre abgründigen Machtgelüste ausleben.“

 

Dem ermordeten Charlie Kirk wird nachgesagt, er sei meinungsstark gewesen und habe den offenen Diskurs mit Andersdenkenden gesucht. Das mag so sein. Es gibt jedoch auch eine alternative Sichtweise, die ebenfalls vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sein dürfte: Kirk habe sich die Techniken der in den USA seit Langem vor allem an Universitäten etablierten Debattierclubs angeeignet und an Universitäten und anderen Orten seine Events vor allem für seinen YouTube-Kanal aufgezeichnet bzw. live gestreamt. Vielleicht ging es um den Austausch von Argumenten auf Augenhöhe. Vielleicht ging es aber auch tatsächlich genau darum, den politischen Gegner „zu zerlegen“, wie es die Titel seiner Videos häufig nahelegten. Die Algorithmen bzw. die menschliche Aufmerksamkeitsökonomie belohnen solche reißerischen Headlines, wie hinlänglich bekannt sein dürfte. Nebenbei bemerkt: Es fällt schon auf, dass in kaum einem libertären, tendenziell rechten und – überraschenderweise – auch sehr selten in einem konservativen Beitrag Kritisches über die Algorithmen sozialer Netzwerke zu lesen ist, wo doch sonst aus jedem Leerzeichen der Dampf des Kulturpessimismus herauspfeift. Wie auch immer, Kirk wollte natürlich möglichst viele Views und steigende Abonnentenzahlen. Daran ist nichts Unanständiges. Ob Kirk tatsächlich hinter allen Behauptungen und Aussagen politisch gestanden hat oder sie zum Zwecke rhetorischer Überzeichnung geäußert hat, wird unterschiedlich interpretiert. Fragen kann man ihn jetzt nicht mehr, und ob er dann ehrlich geantwortet hätte – wer weiß das schon –, z. B. was seinen Vorschlag hinsichtlich einer Hinrichtung von Ex-Präsident Joe Biden betrifft.

 

 

Eine Anwendung

Das Werte-Rechteck nach Schulz von Thun bietet die Möglichkeit zur Extremsicht (-) aus dem linken wie dem rechten Spektrum eine weniger extreme, gemäßigte Perspektive anzunehmen (+). Die Pfeile laden ein, die gemäßigte Perspektive (+) aus dem jeweils anderen Spektrum (-) anzusehen. Es wird leichter, diese zu akzeptieren:

Werterechteck nach Schulz von Thun

 

Trauer oder Scheintrauer?

 

Hätte man mich nach der Ermordung von Charlie Kirk gefragt, ob ich um ihn trauern würde, so wäre meine Antwort: Nein. Denn ich hatte von ihm zu seinen Lebzeiten nie etwas gehört. Wer mir unbekannt ist, dessen Tod kann ich auch nicht betrauern. Ich verurteile jeden Mord ausnahmslos – so auch den Mord an Charlie Kirk. Dennoch trauere ich um ihn ebenso wenig wie um palästinensische Kinder, die von der IDF freilich ohne Absicht durch die militärische Operation im Gazastreifen getötet wurden. Ich kannte und kenne nämlich kein einziges palästinensisches Kind, das im Gazastreifen wohnte bzw. heute noch dort wohnt. Ich kenne auch keinen einzigen erwachsenen Palästinenser, der im Gazastreifen lebt, und kann nicht beurteilen, inwiefern dieser unschuldiger Zivilist (Tod durch Kollateralschaden, nicht Mord) oder islamistischer Anhänger und Unterstützer der Hamas (gerechtfertigte Hinrichtung) war bzw. ist.

 

Ich möchte mich um Gottes Willen nicht des Whataboutismus schuldig machen und weiß nicht so recht, ob man ohne unzulässigen Vergleich einen berechtigten Shitstorm auslösen würde: Osama bin Laden hat vermutlich kein einziges Mal persönlich Hand angelegt und jemanden ermordet. Er hat jedoch – darüber werden sich die Leser*innen weitgehend einig sein, vermute ich – durch sein Reden, seine Videobotschaften und nicht zuletzt seinen erhobenen Zeigefinger Abertausende Morde angestachelt. Im Anschluss an seine Tötung zu trauern, das kam freilich niemandem in den Sinn, der nach der Ermordung Kirks in Schnappatmung geriet, wenn ein Linker irgendwo gepostet hatte, dass sich seine Trauer für Kirk in Grenzen hielte.

 

Warum fragt man nicht die Russland-Verteidiger*innen, was sie von Alexander Dugin halten, der seine russifizierende, kulturell-politisch im Jahre 1788 festzufrierende Vision „Europa von Lissabon bis Wladiwostok“ durch „töten, töten und noch einmal töten“ durchzusetzen beabsichtigt? Sollte ich auch ihn betrauern, falls es noch einmal einen Anschlag auf ihn gäbe, der diesmal nicht mehr seine Tochter treffen könnte? Ein anderes Beispiel: Wer erinnert sich noch an den inoffiziellen Mercedes-Werbespot, in dem der noch sehr junge, auf der Straße in Braunau spielende Adolf Hitler von einem der ersten PKW totgefahren wird?

 

Die Ermordung Izak Rabins im Jahre 1995 war das „Finale“ einer extrem aufgeheizten Stimmung. Der heutige Ministerpräsident Benjamin Netanjahu inszenierte eine Scheinbeerdigung von Rabin; während seiner Rede wurde ein Galgen mit einer Rabin-Puppe vor den Linsen der Fernsehkameras hin- und hergeschwenkt. Der damals 19-jährige Itamar Ben-Gvir, heute Israels Minister für Nationale Sicherheit, hat – wie in der Doku The Bibi Files zu sehen – vor laufender Kamera wortwörtlich zu Rabins Ermordung aufgerufen.

 

Aufgeklärte Klarheit

 

Die Postmoderne ist nicht das Ende der Aufklärung, sondern eine Aufklärung zweiter Ordnung. Die Menschheit braucht dringend Weiterentwicklung, weil sie den technologischen Möglichkeiten, die sie sich selbst geschaffen hat, kulturell und spirituell bisher kaum bis gar nicht gewachsen ist. Dass die Postmoderne uns dabei nicht wirksam hilft, zeigt, dass sie mittlerweile an ihre Grenzen gestoßen ist – durch die Überforderung durch die horizontale Pluralität, die sie selbst geschaffen hat. Die Agenda des Dark Enlightenment ist es, diese horizontale Pluralität abzuschaffen und sich allein auf die vertikale Pluralität zurückzubesinnen. Abschaffung bedeutet jedoch unsägliches Leid. Ist das der Preis, den wir für deren Vorschlag zur Krisenüberwindung zu zahlen haben? Statt Herausforderungen von heute mit den Lösungen von gestern (Autoritarismus, Sozialdarwinismus) anzugehen, trete ich dafür ein, gesellschaftspolitische Entscheidungen mutig mit dem Bewusstsein von horizontaler wie vertikaler Pluralität zu treffen und dabei die Menschen gemäß ihrer aktuell präsenten Wertequalitäten mitzunehmen. Praktische Ansätze dafür gibt es in Wirtschaft, Politik, Bildung und Wissenschaft jede Menge. Es genügt ein Blick in skandinavische Länder, Kanada oder Neuseeland.

 

Letzte Meinungsäußerung für heute:

Der Westen muss sich verändern, wenn er eine Überlebenschance haben will. Denn es gibt sehr vieles Bewahrenswertes. Eine Veränderung des Westens, wie sie sich die Vordenkenden des Dark Enlightenment-Spektrums (Vance, Thiel, AfD etc.) vorstellen, würde jedoch sehr vieles Bewahrenswertes zerstören (sie sind ja bereits dabei) und stattdessen den Westen den geopolitischen Aasgeiern im Osten der eurasischen Erdplatte zum Fraß vorwerfen. Ich finde es erschreckend, dass das viele Menschen offenbar nicht sehen wollen.

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