Man reibe sich die Augen: Alt-68er-Heilpraktiker und Vegan-Köche schreiten scheinbar Seit an Seit mit gewaltbereiten Reichsbürgern und klagen an, es faule immer mehr im Staate Deutsche-Land.
Nur wenige Menschen verstehen die Strukturen und Prozesse der Politik. Gewiss ist es nicht so, dass sie geheim gehalten werden. Es ist schlichtweg für Laien einfach zu uninteressant und langweilig, sich damit zu befassen. Die Mehrheit der sich selbst als „Spirituelle“ bezeichnenden Menschen reagieren auf Politik mit Abneigung. Ein derzeit medial sehr präsenter Anteil erklärt sich Machtzusammenhänge, Entscheidungen und Prozesse, die nicht instant-verständlich sind, mit Verschwörungsvermutungen.
Eine persönliche Rückblende
Kurze Zeitreise in die Jahre 2010 bis 2015: Seinerzeit hatte ich viel und engen Kontakt zu Coaches und Heilpraktikern diverser Couleur. Und ich war sehr offen für Ratschläge, Übungen und etwas
zum sich weiterbilden: „Ließ mal hier, guck da mal rein“.
So habe ich immer wieder unvoreingenommen Texte und Videos konsumiert von Anita Petek-Dimmer, Udo Ulfkotte, Ken Jebsen, Andreas Popp oder Thorsten Schulte. Bis auf Ken Jebsen kannte ich zuerst die Namen gar nicht. Daher brachte ich auch keinerlei Vorurteile mit. Meist schon nach wenigen Minuten beschlich mich ein Unbehagen. Nun kann die Quelle diesen Unbehagens auch kognitive Dissonanz sein. Informationen, die unseren Überzeugungen widersprechen bereiten immer erst einmal Unbehagen. Und so erklärten es auch die Coaches und Heilpraktiker: „Die Wahrheit ist unbequem, weil sie liebgewonnenen Glaubenssätzen widerspricht, weil du jetzt das eigenständige Denken lernst und die Marionettenfäden abreißen.“ Auch das habe ich kritisch geprüft: Ist da nicht etwas wahres dran? Bildete ich mir meine Selbstbestimmtheit nur ein, weil ich mich in diesen Gedanken verliebt hatte, der mich jahrelang verblendet hat? Bin ich noch zu unspirituell, zu sehr dem materiellen Denken verhaftet? Als jedoch dieselben Menschen mit erstaunlich materiellen Argumenten Positionen vertreten haben, die ich nicht mehr teilen mochte – etwa wenn von Umvolkungsthesen die Rede war, wenn ehrenamtliche Flüchtlingshelfer zu Volksverrätern deklariert wurden, wenn Seenotrettung im Mittelmeer in einen Topf geworfen wurde mit der Schleuserindustrie, die mit der Not der Menschen Kasse macht, wenn Fridays for Future mit haarsträubenden Argumenten als großer Schwachsinn abgetan wurde. In diesen Momenten kam mein Vertrauensvorschuss in spirituell geschulte Menschen mit meinem humanistischen Wertgefüge in Konflikt. Hinzu kam, dass mir die Erkenntnisbasis meiner Gesprächspartner zunehmend wackelig erschien, war ich doch durch mein Studium bereits entsprechend geschult: radikaler Konstruktivismus, soziologische Systemtheorie, Heinz von Foerster, Paul Feyerabend. Wer mit „der Wahrheit“ argumentiert, verdient mein maximales Misstrauen. Es ist eben gerade kein kritisches Denken, einfachen Wahrheitsverkündungen zu vertrauen, die ein simples Feindbild skizzieren. Kritisch zu sein bedeutet eben nicht, „die Elite“ pauschal zu kritisieren, sondern eigenen Vorurteilen stets auf die Spur zu kommen und diese zu hinterfragen. Heilpraktiker und Coaches sind berufsbedingt auf Individuen spezialisiert und erst in zweiter Instanz auf interpersonale Beziehungen. An Wissenschaft sind nur die wenigsten interessiert.
Quelle der Zwietracht
Spirituelle feinfühlige Menschen haben häufig Zeit ihres Lebens die Erfahrung des Ausgeschlossenseins gemacht: vom Elternhaus, der Schule, von Gleichaltigen. Sie wurden als „seltsam“ deklariert, nicht ernst genommen und blieben für die meisten unverstanden. Manche Heilpraktiker sehen sich von Schulmedizinern herablassend behandelt, belächelt, vereinzelt sogar angefeindet als Quacksalber und Scharlatane. Auch Menschen anderer Berufe machen die Erfahrung des Ausgeschlossenwerdens: Prominente Vertreter aus dem journalistischen Bereich sind die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Eva Herrmann, der ehemalige Radiomoderator Ken Jebsen und der 2017 verstorbene Udo Ulfkotte. Prominenter Vertreter aus dem Bereich der Wissenschaft ist Daniele Ganser. Wir Menschen haben das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Wertschätzung. Dieses Zugehörigkeitsgefühl bedienen Communities, die sich über die sozialen Medien organisieren, sich gegenseitig Bestätigung zukommen und ein Wir-Gefühl entstehen lassen. So suchen sich Vom-„Mainstream“-Ausgeschlossene Umfelder, in denen sie Anerkennung, Bestätigung und mitunter auch einen Markt finden, der sie materiell versorgt. Auch wissenschaftliche Querdenker, denen die entsprechende Anerkennung im „Mainstream“ versagt blieb, finden ein Betätigungsfeld wie der emeritierte Professor für Volkswirtschaftslehre Bernd Senf. Dass der erfolgreiche Kopp-Verlag mit Vorliebe esoterische, parawissenschaftliche und verschwörungsmythologische Werke verlegt, liegt vielleicht nur an den persönlichen Interessen seines Gründers Jochen Kopp. Dass das die eine oder andere Querverbindung zwischen diesen Disziplinen fördert, ist gar nicht zu verhindern.
Eine „Anti-Mainstream-Allianz“ vernetzt sich
Ich möchte aus beobachteten Vernetzungen und Schulterschlüssen ausdrücklich keine „Verschwörung“ konstruieren. Aus systemischer bzw. netzwerktheoretischer Sicht handelt es sich meistenfalls um
lose Kopplungen. Wir Menschen neigen dazu, diejenigen Menschen kritischer zu sehen, die uns weniger nahe stehen, die uns selbst vielleicht schon einmal abschätzig behandelt haben oder gar
ignoriert. Wer uns jedoch lobt, vielleicht sogar hofiert, dessen Ansichten und Taten sehen wir unkritischer, blenden wir mitunter aus, wenn sie nicht in das freundliche nette Bild passen. Genau
diese gilt es aber besonders kritisch zu prüfen.
Auch ich wurde in den vergangenen 10 Jahren aufgrund meiner unternehmerischen Ausrichtung jenseits der neoliberalen Wirtschaftswelt als Querdenker wahrgenommen und traf auf Menschen, die auf mich ein „Du mit uns gegen das Alte/Falsche“ projiziert haben. Das was von außen wie „die Querfront“ aller Systemkritiker aussieht, kann zunächst sehr vielfältig sein: Esoteriker, Kritiker des ungezügelten Kapitalismus’, Menschen, denen der Ausbau des 5G-Netzes Angst macht, Impfkritiker bis hin zu QAnon-Gläubigen sowie pazifistischen bis militanten Reichsbürgern. Schon bei Pegida liefen Menschen mit, die sich niemals mit allen dort gerufenen Parolen identifizieren konnten, so ist es heute bei den so genannten Hygienedemos, auf denen sich Menschen versammeln, die sich lediglich auf eines einigen: Sie fürchten die Einschränkung der Bürgerrechte und die Aussetzung der Versammlungsfreiheit. Auch wenn freilich niemand dafür in Mithaftung genommen werden darf, wenn auf einer Kundgebung ein verurteilter Rechtsterrorist 10 Meter neben ihm die Fahne geschwenkt hat, trägt dennoch jeder eine Verantwortung dafür, welche Meme und welche Bewegungen man möglicherweise unbeabsichtigt unterstützt. Das gilt gleichermaßen für Petitionen und Ministerpräsidenten-Wahlen. Ich kann nur immer wieder appellieren an alle, die sich von einem „Mainstream“ (der ja bei Lichte betrachtet gar nicht existiert, sondern immer nur eine kognitive Konstruktion eines Beobachters ist, der alles zusammenfasst, wovon man Ablehnung erfährt und was einem Unbehagen bereitet), ausgeschlossen fühlen, sich die „Alternativen“ ganz genau anzusehen: Mit wem verbünde ich mich? Welche Weltbilder werden von jenen vertreten? Gibt es da vielleicht auch eine politische und/oder wirtschaftliche Hidden Agenda? Wie erkläre man die Leichtgläubigkeit, mit der Xavier Naidoo in die Nähe von Reichsbürgern und Anhängern des QAnon-Mythos geraten ist? Was motiviert den Wirtschaftswissenschaftler und ambitionierten Wilhelm-Reich-Forscher Bernd Senf dazu, auf seiner Website auf den obskuren Prediger Ivo Sasek zu verlinken und den als „Friedensforscher“ positionierten Dr. Daniele Ganser auf dessen Veranstaltungen aufzutreten, wie es auch die Holocaustleugner Bernhard Schaub und Horst Mahler getan haben?
Wie im Innern so im Außen
Bis hierher haben wir uns die Verbindungslinien von Spirituellen zur Politik von Außen angesehen. Es gibt noch einen inneren Aspekt: Spirituell geschulte Menschen haben eine feinere Wahrnehmung.
Sie sind hellsichtig. Manche halten das für vormodernen Hokuspokus oder Einbildung. Dabei sind auch „Einbildungen“ Wahrnehmungen, die verschiedene Quellen haben können: Phantasie, Träume,
Trugschlüsse, Halluzinationen durch Drogen ausgelöst oder tiefer Religiosität. Vieles davon wurde seit der Neuzeit zum Teil als Fake, Spinnerei oder perfide Geschäftemacherei abgetan. Manchmal
geht das eine mit dem anderen Hand in Hand wie beim 2008 verstorbenen indischen Guru Maharishi oder als in den 1920er Jahren die bei Therese Neumann (Resl von Konnersreuth) auftretenden Stigmata und das plötzliche Beherrschen des Altaramäischen sowie angebliche jahrelange Nahrungslosigkeit zeitweise zu kommerziell
ausgeschlachteten Wallfahrten führte, ebenso die Auftritte des Wunderheilers Bruno Gröning in den 1950er Jahren. Einiges davon lässt sich quantenphysikalisch erklären, sogar die sinnlich-geistige Überwindung von Ort
und Zeit. Sehr viel mehr jedoch bleibt Interpretation und schlichtweg Glaubenssache.
Die Sache mit der Intuition
Nachdem die Intuition im Nachgang der Aufklärung und wissenschaftlichen Erschließung nahezu aller Lebensbereiche immer mehr zu einem gering geschätzten Überbleibsel unseres tierischen Erbes degradiert und dabei undifferenziert mit den Instinkten gleichgesetzt wurde, erfährt sie seit rund 30 Jahren eine blühende Renaissance in Psychologie und Coaching-Wesen. Für manche gilt die Intuition inzwischen als „ultimativer Schlüssel zur Wahrheit“. Was spielt sich da ab? Menschen nehmen etwas wahr und meinen es kausal zweifelsfrei Beobachtungen im Außen zuordnen zu können. Ein Coach berichtete in einem Interview, wie er auf eine Regierungserklärung von Angela Merkel zur Corona-Pandemie mit Abscheu und Aversion reagierte. Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Und damit schließt sich der Kreis zum äußeren Aspekt: Habe ich (bewusst oder unbewusst) bereits ein Feindbild manifestiert, dann beeinflusst das natürlich meine Wahrnehmung, genauer gesagt, die vorbewusste Bewertung meiner Wahrnehmung. Es ist nämlich überhaupt nicht gesetzt, dass die Empfindungen an dieser Stelle auf tiefe Wahrheiten außerhalb der wahrnehmenden Körper-Geist-Schnittstelle verweisen. Ganz im Gegenteil! Die Aversionen gegenüber Angela Merkel als Beweis für ihre Falschheit oder gar Schlimmeres zu nehmen, setzt etwas in Gang, das nichts mehr mit spiritueller Weisheit zu tun hat. Dort übernimmt das Ego das Steuer. Der frühere Schlagersänger und spätere New-Age-Barde Christian Anders verbreitete bereits 2009 eine Video-Botschaft voller Hass und Verachtung an die Bundeskanzlerin. Die brutale Vertreibung der Rohingya in Myanmar 2017/18 gingen im wesentlichen auf ein Hass-Video des buddhistischen Predigers U Sei Tun zurück. Was als spirituell gesicherte Wahrheiten über Merkel oder die Rohingya interpretiert und verbreitet wird, sind ungeprüfte Projektionen mit – im letzten Fall – mörderischen Folgen. Auch Heinrich Himmler konnte sich mit seinem esoterischen Faible seinen Judenhass prima als höhere spirituelle Weisheit zurechtdeuten.
Ich streite keineswegs ab, dass wir Menschen auf der Ebene der Empfindungen miteinander verbunden sind. Gestalttherapeuten lernen, das zu fühlen, was der Klient sich selbst unbewusst zu fühlen verbietet. Intuition ist eine evolutionsgeschichtlich alte Fähigkeit, die wir wieder entdecken können und die uns im zwischenmenschlichen Bereich unter Anwesenden(!) schnelle und sichere Einsichten vermitteln. Wenn wir es jedoch mit abstrakten oder auf mehren Ebenen vernetzten Sachverhalten zu tun haben, versagt Intuition zielsicher, denn so etwas gab es schlichtweg noch nicht, als sich Intuition bei unseren Vorfahren ausgeprägt hat. Mit Herausforderungen jenseits der Begegnung unter Anwesenden kann Intuition nichts anfangen. Und das sind in unserer komplexen und medial vermittelten Welt die allermeisten. Intuition hat deshalb nicht etwa ausgedient. Sie ist jedoch mitnichten die allein selig machende Kraft. Vivian Dittmar spricht in ihrem Buch Das innere Navi von fünf Disziplinen des Denkens: Neben Intuition sind das Herzintelligenz, Inspiration, Ratio und Absicht.
Erwachter Totalitarismus
Unter denjenigen, die gerade von Bewusstseinserwachen sprechen, fürchten bzw. konstatieren einige gerade diktatorische Verhältnisse, wie zahlreiche Texttafeln auf Social Media und auf
Hygienedemos belegen. So kursierte beispielsweise das Meme, die Regierung wolle eine „Zwangsimpfung“ durchsetzen. Dabei stand lediglich der Vorschlag im Raum, dass es für Menschen, die eine
COVID-19-Immunität belegen können, eher Lockerungen geben könne. Dieser Vorschlag hielt einer juristischen Prüfung in dieser Form nicht stand. In einem Rechtsstaat darf die Politik nicht in
gerichtliche Entscheidungen eingreifen. Ich nehme mit Besorgnis wahr, dass einige der sich zu „Erwachten“ erklärenden Menschen selbst eine totalitäre Politik vertreten. Das Totalitäre daran ist,
Bedürfnisse derjenigen Menschen zu übergehen, die sich vor einer COVID-19-Ansteckung schützen oder ihren Beitrag leisten möchten, die Pandemie zu begrenzen: durch Ausgangsbeschränkungen,
Maskentragen, Kontaktabstand und – sobald möglich – Impfung. Nun mag man einwenden, wer will kann ja Masken tragen und sich impfen lassen. All dies ist jedoch keine Entscheidung, die
ausschließlich den individuellen oder familiären Wirkungskreis betrifft. Es geht um die Mitverantwortung für andere, auch derjenigen, denen man nicht Face-to-Face gegenübersteht oder an die man
nicht ständig denkt. Das umfasst auch diejenigen, die sich ein gänzlich anderes Bild von der Pandemie machen. Denn auch jemand, der nichts von der Schulmedizin hält, vielleicht noch nicht einmal
Krankenkassenbeiträge zahlt, muss im Notfall versorgt werden. Jeder ist – ob er will oder nicht – mit unserem Gesundheitssystem verflochten und Ärzte können niemanden vom hippokratischen Eid
ausnehmen, auch wenn er laut schreit „Es ist Gottes Wille, dass du mich hier sterben lässt!“ Das kann man übergriffig finden, ist jedoch derzeit geltender Rechtsrahmen und
mehrheitsgesellschaftlicher Konsens, aus dem sich nicht eine Seite ohne Schaden für die andere einseitig ausnehmen kann.
Politik hat die Aufgabe, einen Kompromiss zu finden, der möglichst vielen Menschen gerecht wird. In der Welt der „Erwachten“ gibt es nur eine „wahre Deutung“ der Krise, egal ob mehrheitsfähig oder nicht. Von Fakten spreche ich erst gar nicht, weil Glaube immer stärker ist als Fakten. Und der Glaube „die ultimative Wahrheit zu kennen“ steht aus Sicht der „Erwachten“ über allen anderen Bedürfnissen, die die „Erwachten“ als unerleuchtet, fremdgesteuert oder was auch immer missachten.
Zwei Arten von Spiritualität
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen aufgeklärter und unaufgeklärter Spiritualität. Erstere negiert Aufklärung und Wissenschaft, letztere transzendiert sie. Zur unaufgeklärten
(prä-rationalen) Spiritualität zählt auch die Ideologie, alles im Leben positiv sehen zu müssen. Probleme gäbe es nur für geistig unerleuchtete. Dabei bezieht sich die Philosophie des
Positivdenken auf das kosmische Gesetz der Resonanz (Anziehung), ignoriert dabei jedoch die übergeordneten Gesetze von Polarität und Ganzheit (Einheit).
Positivdenken ist das Ignorieren der anderen Seite der Polarität, des Schattens, der sich damit im Unterbewusstsein nur noch ungezügelter austobt. Die Schul-Psychologie nennt es Verdrängung. Prä-rationale Spiritualität hält daher auch nur wenig von Psychologie, Psychotherapie und erst recht nichts von Psychoanalyse. Quick-Fix-Coaching – das ginge noch in Ordnung. In einer akuten Situation auf der Ebene rasch zu erlernender neuer Handlungsmuster sind Verdrängen und Quick-Fix-Coaching freilich sehr hilfreich, aber immer auf Kosten eines nachhaltigen, wirklich tiefgreifenden spirituellen Lernprozesses, der sich eben nicht auf die operative Handlungsebene beschränken lässt. Wer sich nicht anschaut, wovon er wegläuft, merkt nicht dass er sich die ganze Zeit vor seinen eigenen Ängsten versteckt. Eine besonders krasse Variante des „Ausmerzens“ von Ängsten finden wir bei der völkischen Esoterik. Bei dieser geht sozialdarwinistisches „Fressen und gefressen werden“ eine unheilige Allianz ein mit einer Harmoniesucht, die auf eine höhere Natur projiziert wird, in der Menschenrechte als „widernatürliche Gutmenschen-Entgleisung“ diffamiert werden. Eine gemäßigte Variante der Verdrängung finden wir, wenn spirituelle Lehren als ein Freizeitprodukt konsumiert oder gar als Produkt eines Business Models vermarktet werden.
„Das verheißungsvolle Versprechen von Spiritualität als Kernintelligenz des höchsten Anliegens bleibt auf der mythischen Kindheitsebene eingesperrt, …nichts als metaphysische Behauptung, ohne Adressen und ohne Richtlinien (und deswegen ohne die geringste Bedeutung); oder verankert sich in Bewusstseinszuständen, die eine tiefe Realität besitzen, doch abgetrennt sind vom restlichen Kosmos… und endet deswegen schließlich dabei, genau die, die sie praktizieren, zu teilen und zu spalten. Überall wird das verheißungsvolle Versprechen von spiritueller Intelligenz verkrüppelt, gekappt und gekreuzigt. Abgeschoben in die blinden Gassen scheußlicher Vernachlässigung, überfallen auf den Parkplätzen der Vernunft, erstickt mit Wolken von Materialismus, untergebracht in mythischem und metaphysischem Unsinn, regrediert dieses verheißungsvolle Versprechen… zum New-Age-Infantilismus.“
Ken Wilber, Integrale Spiritualität
Menschen entdecken die vormoderne Sprititualität in Form von Schamanismus und Naturreligionen, verlieben sich darin und negieren alle neuzeitlichen Errungenschaften wie Naturwissenschaft, Schulmedizin und Masern-Schutzimpfung. Sie ziehen eine Grenze: Hier sind wir, unser Stamm (die „Alternativen“, „Erwachten“) – dort ist das dunkle Außen, die Gefahr (der „Mainstream“, die „Schlafschafe“). Die Entdeckung des souveränen Ich entspricht bei dieser prämodernen Variante nicht so sehr einer Orientierung am Verantwortungsbewusstsein bei Überwindung von statischen Autoritäten. Vielmehr ist sie im Kern noch immer eine egozentrische Selbstbehauptung, die gesellschaftliche Idealismen allenfalls utilisiert, wie es in großen Teilen der 68er-Mitläufer und anschließend noch deutlicher bei Punks und Hausbesetzern sowie bei der heutigen autonomen Szene zu beobachten ist. Ihnen geht es weniger um eine andere Gesellschaft zum Nutzen aller, sondern in erster Linie um Eigennutz, sprich: Selbstbefreiung von äußeren Zwängen ohne Rücksicht auf soziale wie ökologische Schäden, denn was sonst stellen brennende Autos dar? Die egozentrische Befreiung von äußeren Zwängen äußert sich in einer demonstrativen Ablehnung von Autoritäten: Eltern, Lehrer und später diejenigen, auf die jene Rolle projiziert wird: Polizei, Politiker, Behördenbriefe, Verkehrsschilder, Abstandsregeln oder Maskenpflicht. Mit dem Motiv des sich emanzipierenden Egos geht es erst einmal um die Vollendung der Individuation, um das richtige Erwachsenwerden. Bis dahin ist die emotionale Pubertät noch immer nicht abgeschlossen. Die meisten Videos und Postings in sozialen Netzen, in denen sich Menschen als „aufrechte Bürger gegen die Zwangsmaßnahmen“ wehren, wirken daher entlarvend infantil.
Wenn aus einer trans-rationalen Spiritualität heraus Autoritäten abgelehnt werden, dann umfasst das eine idealistische Agenda, die mit statischen Autoritäten nicht mehr vereinbar ist. In diesem Fall geht es nicht mehr um sich selbst, sondern um das Wohl aller. Das Trans-Rationale ist vom Personalen, von individuellen Beweggründen immer mehr gelöst. Das trans-personale Wollen – das Inter-Sein – ist eine ganzheitliche, von der Mitwelt nicht mehr losgelöste Verwirklichung des Selbst. Es ist kein Trip und auch keine Wellness-Reise. Das Trans-Rationale ist eben sehr haltlos. Es bedient nicht mehr die Sehnsucht nach einem dogmatischen Halt wie beim Prä-Rationalen. Es ist systemisch, multikausal und multidimensional. Es versteht, dass mehrere Ebenen dynamisch miteinander verflochten sind. Ein „Ich weiß wie die Welt funktioniert“ ist durch und durch prä-rational. Die trans-rationale Spiritualität umfasst das Wahrnehmen der Verbundenheit mit allen fühlenden Wesen dieser Welt und ist in diesem Sinne wirklich ganzheitlich. Statt festen Glaubensüberzeugungen geht es um Evidenz und Beobachtung. Es hat seine Entsprechungen in der Quantenphysik, dem radikalen Konstruktivismus und der Systemtheorie, wenngleich sie sich mit den wissenschaftlichen Zugängen nicht 1:1 deckt, denn das eine betrifft die personale und das andere die interpersonale Bewusstseinsebene.
Ken Wilber hat in seiner integralen Lehre dies in unterschiedliche Quadranten abgebildet:
Unsere Lebensumwelt erzeugt Entscheidungsdruck durch die Vervielfältigung der Möglichkeiten. Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, Entscheidungen trotz Unsicherheit zu fällen und es auszuhalten, wenn sie sich im Nachhinein als falsch erweisen. Die Akzeptanz ambivalenter Gefühle ist ein Zeichen von Reife. Wer hingegen spannungsreiche Gefühle und ungelöste Fragen fortgesetzt ablehnt, neigt zum Fundamentalismus. Dabei ist die Vorstellung, wir hätten ein kontinuierliches Bewusstsein bereits eine Illusion. Dass unsere Intelligenz uns diese Illusion suggeriert, ist nicht Selbstzweck, sondern dient dem Überleben unserer Art. Damit sind wir bislang sehr gut gefahren. Nun haben wir Menschen uns aber eine Umwelt geschaffen, in der sich sehr vieles sehr rasch ändert. Ein statisches Identitätsgefühl erweist sich in dieser Umwelt zunehmend als Hindernis, als Quelle von Konflikten. Daher sind Spiritualität und Nationalismus auf der trans-rationalen Entwicklungsstufe nicht miteinander vereinbar. Trans-rationale Spiritualität löst die Identifikation mit dem Ego, mit dem Körper, löst die Ich-Illusion auf. Nationalismus erweitert diese Illusion jedoch sogar noch auf eine Identifikation mit einem Volkskörper, einer Identifikation mit einer Nation.
Diverse Lesarten spiritueller Transformation
In der spirituellen Szene habe ich zwei unterschiedliche Lesarten auf die gegenwärtige Entwicklung ausfindig gemacht:
Die erste beschreibt den gegenwärtigen Rechtsruck als folgerichtigen Ausgleich gegenüber der Liberalisierung der vergangenen 75 Jahre: Das Weibliche, das Weiche, das Multikulturelle musste nach dem Ende des Dritten Reiches seine Möglichkeiten ausloten, weil es zuvor jahrhundertelang unterdrückt wurde. Jetzt habe es jedoch mehr als überhandgenommen und hätte inzwischen die Freiheit und Entfaltung der Mehrheitsgesellschaft unterdrückt. Es müsse nun einer notwendigen Rückkehr zum Nationalen und wieder männlich geprägtem weichen.
Demgegenüber hat die zweite Sichtweise eine längere Periode im Blick: Die als neolithische Revolution bezeichnete Sesshaftwerdung des Menschen vor zehn- bis zwanzigtausend Jahren hätte das Patriarchat, also die Herrschaft des männlichen Prinzips bei gleichzeitiger Unterdrückung des weiblichen Prinzips hervorgebracht – nicht nur der Frauen, sondern auch des weiblichen Anteils bei Männern. Die Folge sind Kriege, soziale Ungerechtigkeit und nicht zuletzt die hemmungslose Ausbeutung unseres Planeten. Die spirituelle Erkenntnis der Ganzheit, einschließlich der Einsicht, dass wir uns durch Wettbewerb und Kampf gegeneinander nur selbst schaden, weil wir alle – auch Tiere und Pflanzen – miteinander verbunden sind, führe zur Wiederentdeckung und Integration des weiblichen Prinzips. Auch das betrifft nicht nur die Frauen selbst, sondern auch Männer und Diverse – natürlich auf einem anderem Niveau (Trans-) als in den matriarchalen Stammesgesellschaften (Prä-).
Ich kann nicht sagen, ob diese beiden Lesarten überhaupt einen über die sinnliche Inspiration hinausgehenden Wert haben. Die Gemeinsamkeit beider besteht darin, dass sie die Turbulenzen und das Krisenhafte der Gegenwart – aktuell die Corona-Pandemie – als heilsame Übergangsphase deuten, als eine Übergangsphase in der sich die natürliche Ordnung auf höherer Ebene einstellt. Wir Menschen haben die Wahl – jeder für sich – uns wie die animalische Reiz-Reaktionsmaschine zu verhalten, die zweifelsfrei in uns wohnt, oder uns unserer Reiz-Reaktionsmuster bewusst zu werden, um dann frei zu entscheiden, wie wir auf einen Reiz reagieren: rein egoistisch oder mit Verantwortung für das Morgen und unsere Mitmenschen.
Integrales Bewusstsein
Entfaltet sich ein Bewusstsein von Verbundenheit mit den anderen und einem größeren Geist, so erweitert es sich zu einer nach außen gerichteten Spiritualität mit Befreiung des Bewusstseins ohne
die Notwendigkeit von Zeremonien, Mantras oder Gruppenübungen. Mit diesem Bewusstsein gibt es nichts Wichtigeres als das Leben als solches und gleichsam wird das eigene Leben unwichtig. Mit den
Worten von Śantideva lässt sich treffend der Unterschied zwischen einem lediglich dem eigenem Selbsterhalt verpflichteten Egoismus und der weltzentrischen Selbstverwirklichung beschreiben: „Die
unglücklich sind in der Welt, sie alle sind es durch das Verlangen nach eigenem Glück. Die glücklich sind in der Welt, sie alle sind es durch das Verlangen nach dem Glück der anderen.“ Mit einem
integralen Bewusstsein verschließt man sich auch nicht vor Menschen, die anfällig für Verschwörungsmythen sind. Man sieht in ihnen Menschen mit Bedürfnissen, ohne deren Gedankenwelt teilen zu
müssen. Man versteht deren Unterscheidungsmuster und Feindbildkreationen, mit denen sie einen Schatten auf das werfen, was sie als globale Erleuchtung bezeichnen.
Im Bewusstsein der Verbundenheit mit allen Geschöpfen sind auch jene eingeschlossen, die ein nach Außen aggressives Verhalten pflegen. Integrales Bewusstsein ist keine reine Privatsache mehr. Es
umfasst individuelle Entfaltung ebenso wie die gesellschaftliche weltzentrisch-humanistische. Beide bedingen sich gegenseitig. Keine der beiden dominiert die andere. Jeder hat jedoch bei sich
selbst zu beginnen: Wo bin ich noch intolerant? Was verdränge ich? Wo neige ich zu Gewalt? Wer nur danach trachtet, sich von einem Konflikt zu befreien, der vergrößert ihn nur. Lösen kann man
Konflikte erst dann, wenn man sie als Tatsache sieht. Jenseits der Vergleiche und Idealvorstellungen erkennen wir, dass es Dualität nur in unserer Vorstellungswelt gibt. Dualität ist für unser
praktisches Leben mitunter (noch) hilfreich. Auf übergeordneter Ebene aber sind Gegensätze nur zwei Seiten eines Ganzen. Das gilt insbesondere für die Dualität zwischen Objekt und Beobachter. Die
Physik kennt sie als Heisenbergsche Unschärferelation. Im Gesetz der Ganzheit (Einheit) löst sich diese Dualität auf. Theoretisch verstehen das schon viele. Aber wirklich begreifen kann man es
nur auf der erfahrungsmäßigen Ebene. Unser Geist ist im praktischen Leben auf die permanente Handhabung von Materie konditioniert. Daran ist das duale Denken sehr gut angepasst. Um jedoch
Probleme aufzulösen, die auf geistiger Ebene entstehen, ist ein integrales Denken nötig, um nicht unaufhörlich neue Missverständnisse und Konflikte zu produzieren. Und davon haben wir mehr als
genug, wie etwa die unterschiedliche Deutung von Religionen, von Viren-Pandemien, von politischem Handeln. Jiddu Krishnamurti sagte dazu „Es gibt keinen Führer, es gibt keinen Lehrer, es gibt
niemanden, der Ihnen sagt, was zu tun ist. Sie sind allein in dieser verrückten, brutalen Welt.“ Das erscheint nur im ersten Moment dystopisch. Wenn wir lernen, diese Erfahrensweise in unser
Leben zu integrieren, gelingt es uns Schritt für Schritt; denn unser Geist ist erstaunlich anpassungsfähig. Wir müssen nur mit dem Training beginnen. Folgende Grafik veranschaulicht, wo jeder für
sich ansetzen kann, um in jedem bewussten Moment dem dualen Denken immer weniger auf den Leim zu gehen:
Mit der integralen Perspektive orientieren wir auf ein Wachstum geistiger Natur und benötigen keines, das im Mehr von Verbrauch und materieller Erdverwandlung und somit der Zerstörung unserer Lebensgrundlage mündet. Die integrale Sicht bejaht jegliches Leben. Unser eigenes wie das der Anderen.
Aller!
Ohne Ausnahme!
Teile des Artikels sind den beiden zuletzt erschienenen Büchern des Autors entnommen.
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