Nach der Krise des Liberalismus

Die FDP ist wieder eine Regierungspartei – eine Partei, die sich dafür einsetzt, dass die Freiheit nicht auf der Strecke bleibt. Nun gibt es innerhalb des sich selbst als liberal bezeichnenden Polit-Spektrums ein breites Band: die LKR, Roland Tichy, Rainer Zitelmann und Ramin Peymani stehen dabei am rechten Rand, während Gerhart Baum und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das linke Spektrum besetzen. In der Weimarer Republik gab es sogar zwei liberale Parteien im Reichstag und oft auch in der Regierung: DVP und DDP. Das ist lange her und ich wäre ein reaktionärer Konservativer, wenn ich die Lösung für aktuelle und künftige Herausforderungen im Wiederherstellen früherer Strukturen sähe.

 

Post-materialistischer Liberalismus

 

Der aktuell praktizierte Liberalismus steckt in einer Krise. Außer auf Defizite an Freiheit hinzuweisen, hat er gerade nicht viel zu bieten. Auf sehr viele globale, ökonomische und technologische Fragen gibt er Antworten aus der Mottenkiste des 20. Jahrhunderts, aus den Konzeptpapieren der Mont Pèlerin Society. Von einer Mehrheit wird er als ökonomiezentrierter anti-sozialer Egoismus missverstanden. Ich finde das tragisch. Liberalismus braucht dringend ein Update. Solch ein Update kann jedoch weder im libertären Anarchokapitalismus noch im Sozialliberalismus liegen. Beide für sich genommen extremen Spielarten sind genau wie die Sozialdemokratie dem Materialismus verhaftet. Nicht dass ich die materiellen Anteile unseres Lebens leugne, ganz gewiss nicht. Jedoch können wir nicht weiterhin Ressourcen (auch finanzielle) der Zukunft heute schon verteilen und verprassen. Das Verständnis von Wohlstand und Freiheit kann nur erhalten und weiterentwickelt werden, wenn es post-materialistisch – keinesfalls zu verwechseln mit anti-materialistisch! – gedacht und praktiziert wird.

Spiral Dynamics Liberal Querdenker Incels Libertär
Verortung ausgewählter liberaler und antiliberaler Strömungen

Die in der Grafik verwendeten Farben entsprechen der Memes der Spirale Dynamics. Grün, Gelb und Türkis haben sich von der materialistischen Anhaftung gelöst. Grün löst sich vom und Gelb überwindet Wettbewerbsdenken, indem es die ökonomische Kompetenz des neoliberalen Orange auf einer reiferen – spirituell nicht mehr begrenzten – Ebene ganzheitlich integriert. Der hier so genannte systemische Liberalismus hat nichts mit Systemtreue zu tun, sondern versteht sich auf die Eigendynamiken gesellschaftlicher Sub-Systeme und deren Wechselwirkungen. Aus der Perspektive eines systemischen Liberalismus’ sind weder Ungerechtigkeit noch bedrohte Freiheit die brennendsten Probleme. Beide sind lediglich beobachterabhängige Symptome des eigentlichen Problems: der unvollendeten Individuation. Mit anderen Worten: Politik und Wähler agieren wie Kinder und pubertierende Jugendliche. Deshalb werden Populisten gewählt, verfangen Schmutzkampagnen, werden politische Wettbewerber als „Gegner“ oder gar „Feinde“ betrachtet, wird vergessen oder geleugnet, dass auch sie Teil derselben Gesellschaft sind. 

 

Liberal und integral

 

Systemischer Liberalismus kann sich weiterzuentwickeln zu einem integralen Liberalismus. Zwar passt das Suffix „-Ismus“ weder zum systemischen und erst recht nicht zum integralen Ansatz, es ist jedoch einfach zu gebräuchlich, um sich etwas Neues dafür auszudenken. Vielmehr kommt es darauf an, was eigentlich integriert werden soll: nämlich alle unsere Gesellschaft prägenden Memes: Purpur (das tribalistische), Rot (das sozialdarwinistische), Blau (das prinzipientreue), Orange (das wettbewerbsorientierte) und Grün (das humanitäre). Ohne Integration dieser Memes – nicht zwangsläufig aller durch sie geprägten Menschen! – zerfällt die Gesellschaft. Die attestierte Spaltung der Gesellschaft wird derzeit im Zusammenhang mit Querdenkerwesen und Impfskepsis beobachtet. Ich sehe hohes Potenzial, vormodern-ganzheitliche und spirituelle Praktiken zu integrieren und schlussendlich zu transformieren. Lebensreformbewegung, Naturheilkunde, Anthroposophie, Ganzheitlichkeitslehre und praktizierte Tiefenökologie sind keineswegs durch und durch falsch, nur weil sie in der Praxis – nicht erst seit Aufkommen von Querdenken, sondern bereits vor 150 Jahren – fließende Übergänge zu ausgrenzend völkischen, sozialdarwinistischen und antisemitischen Ideologie-Fragmenten aufweisen. So enthält jede Lehre für sich genommen schätzungsweise 80 Prozent wahrhaftige lebensbejahende Inhalte und Prinzipien. Die übrigen 20 Prozent sind in der Tat pervertierte Reaktanzen gegenüber modernen Entwicklungen, die in ihrer Wirkung – ganz nach dem Pareto-Prinzip – 80 % der Ergebnisse zeitigen: gewaltsame Radikalisierung von Querdenkern und QAnon-Gläubigen sowie die Verbreitung von mörderischen Verschwörungsmythen. 

 

Ein integraler Liberaler erkennt: In jedem von uns steckt der Menschenfreund, der Hilfsbereite, der Rassist, der Sozialdarwinist, ein Teil der zu hemmungsloser Völlerei neigt und ein Teil, der unsere Lebensgrundlagen nachhaltig schützen will. Freilich sind diese Anteile sehr unterschiedlich stark ausgeprägt, manchmal bis zur Unkenntlichkeit verkümmert. Systemischer Liberalismus will nichts verbieten und niemanden bevormunden, sehr wohl aber (verantwortungs-)bewusst diejenigen Anteile fördern, die Leben – auch das nachfolgender Generationen und von Menschen auf anderen Erdteilen – erhalten und Leid verringern. Würde man sich jedoch allein auf Marktmechanismen verlassen, setzten sich Produkte, technische Innovationen, Algorithmen und mit ihnen auch die Medienbotschaften durch, die auf unbewusst wirkende Impulse abzielen. Wir brauchen hingegen eine zunehmende Deckungsgleichheit von Wirkungs- und Verantwortungskreis.

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