Wie Markus Krall am Mythos vom leistungsunfähigen Polit-Parasiten schraubt
Es ist scheinbar ruhig geworden um Dr. Markus Krall, dem Geschäftsführer der Degussa Sonne/Mond Goldhandel GmbH. Die letzten politischen Wortmeldungen stammen vom November und sind Wiederholungen von Buchausschnitten, Vorworten, Videos, die noch älter sind. Seit dem gibt es lediglich SEO-Fangtexte auf Affiliate-Marketing-Seiten für Geldanlagen und ein Interview auf einem sehr kleinen Youtube-Kanal veröffentlicht am 26. Januar. Vielleicht ist das nur die Ruhe vor dem Sturm, den Krall seit Jahren anrollen sieht? „Wenn du eine Revolution willst, stelle die Gegenwart so hässlich wie nur möglich dar.“ Diesen leninistischen Leitsatz nehmen sich seit Jahren neurechte Umsturz-Phantasten sehr zu Herzen.
Das „Schrauben am Mythos“ mache ich an Thesen fest, die Krall in seinen Vorträgen und Schriften aufstellt.
These „Politiker haben keinen Berufsabschluss.“
Auf welche Politiker bezieht sich die These? Viele ehrenamtliche Bürgermeister kleinerer Gemeinden, Kreis- und sogar Landtagsabgeordnete sind nur nebenberuflich als Politiker tätig: die übergroße Mehrheit aller deutschen Politiker. Werfen wir einen Blick auf die aktuelle Bundesregierung und deren Berufsabschlüsse:
- Olaf Scholz (Bundeskanzler): Rechtsanwalt
- Robert Habeck (Wirtschaft und Klimaschutz): Literaturwissenschaftler, Dr. phil.
- Christian Lindner (Finanzen): Politikwissenschaftler M.A.
- Nancy Faeser (Inneres und Heimat): Rechtsanwältin
- Annalena Baerbock (Auswärtiges Amt): Master in Public International Law
- Marco Buschmann (Justiz): Rechtsanwalt, Dr. jur.
- Hubertus Heil (Arbeit und Soziales): Politikwissenschaftler
- Christine Lambrecht (Verteidigung): Rechtsanwältin
- Cem Özdemir (Ernährung und Landwirtschaft): Dipl.-Sozialpädagoge
- Anne Spiegel (Familie, Senioren, Frauen und Jugend): Politikwissenschaftlerin M.A.
- Karl Lauterbach (Gesundheit): Master of Public Health, Arzt, Dr. med.
- Volker Wissing (Digitales und Verkehr): Rechtsanwalt, Dr. jur.
- Steffi Lemke (Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz): Dipl.-Agraringenieurin
- Bettina Stark-Watzinger (Bildung und Forschung): Dipl.-Volkswirtin
- Svenja Schulze (Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung): Germanistik, Politikwissenschaft M.A.
- Klara Geywitz (Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen): Dipl.-Politologin
- Wolfgang Schmidt (Kanzleramt): Jurist
Man könnte jetzt noch recherchieren, ob unter den parlamentarischen Staatssekretären, Parlamentsmitarbeitern und den Kollegen in den Landesregierungen jemand ohne Ausbildungs- oder Studienabschluss sitzt. Ein gern beigebrachtes Beispiel ist der Studienabbruch von Kevin Kühnert. Man mag von ihm als Mensch oder Politiker halten was man will, Fakt ist: Wer so früh schon hauptamtliche Positionen in seiner Partei einnimmt, hat gar keine Zeit zu studieren. Ähnliches ließe sich über eine Reihe von erfolgreichen Unternehmern sagen, die in Schule und Ausbildung „versagt“ hatten, weil sie sich eben frühzeitig auf das aus ihrer Sicht wirklich Wichtige konzentriert haben: Thomas A. Edison, Richard Branson, Hans Wall oder Vera F. Birkenbihl. Bei jeder anderen Gelegenheit wird die typisch deutsche Fixierung auf formale Bildung und Abschlüsse gern als völlig aus der Zeit gefallene kontra-unternehmerische Beamtenmentalität kritisiert. Warum macht Krall bei Politikern eine Ausnahme?
These „Politiker haben noch nie richtig gearbeitet.“
Die meisten Bundesminister haben vor oder trotz ihrer Parteikarriere in Kanzleien, Unternehmensberatungen oder der Industrie gearbeitet. Sicher kann man sich Fake- oder Gefälligkeitsjobs in den Lebenslauf schreiben. Der politische Gegner wird es ausschlachten, also was hätte man davon? Wo der politische Laie gerne wegschaut: Um in etablierten Parteien in ein Amt zu kommen, muss man sehr viel Zeit ehrenamtlich aufbringen (berüchtigte „Ochsentour“), um sich innerhalb der Partei einen Namen zu machen, um Netzwerke zu knüpfen, um Vorkehrungen für parteiinterne Wahlen zu treffen. Die Verselbstständigung des funktional ausdifferenzierten Politiksystems mit seiner eigenen Sprache, spezifischen Logiken wirft freilich die Frage auf, ob dies noch den Menschen Nicht-Politikern dient oder nurmehr dem Selbsterhalt. Aus der Ferne ist schwer auszumachen, wann Networking in Seilschaften münden, demokratische Zugestände in persönliche Gefälligkeiten oder „Postengeschacher“. Ämter sind eben nicht nur Jobs mit Pensionsanspruch, sondern Voraussetzung für machtvolles Gestalten. Bei aller scheinbaren Entfremdung sind Politiker andererseits den größeren Teil ihrer Arbeitszeit in Kontakt mit Interessengruppen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Die für uns Nicht-Politiker oft unverständlich langatmige Gremienarbeit – also das argumentative Kämpfen für Themen und Abstimmungsmehrheiten – will gelernt sein. Wer schnell zu Geld oder außerdemokratischer Macht („Deep State“) kommen will, geht andere Wege als ausgerechnet den ohnehin von den Medien unablässig beobachteten Weg über Gremien- und Parteiinstanzen. Seit 40 Jahren wird einfach mehr diskutiert als in Zeiten, in denen das unangefochtene Alphaltier seine Günstlinge in die Spur schickte, wie das in der CSU Franz Josef Strauß bis zu seinem Ableben meisterlich praktizierte und mit diesem Stil bis heute Vorbild für patriarchal-konservative Nostalgiker ist. Unsere zeitgenössischen Politiker wollen gemeinhin demokratisch gestalten und das ist weder etwas für Arbeitsfaule noch für reine Egomanen. Ausnahmen bilden antidemokratische Gutsherren wie Donald Trump, die sich Einfluss mit wenig transparenten und prinzipienlosen Mitteln erkaufen.
These: „Politiker wird man, weil man für die unternehmerische Arbeitswelt nichts taugt.“
Ich lese berufsbedingt viele Stellenanzeigen und Lebensläufe. Die These ist so allgemein formuliert nicht haltbar. Vergleiche der Anforderungen zwischen Finanzwirtschaft, Industrie, Handwerk, freie Berufe, Dienstleistung, Beratung, Kulturbetrieb, Universitäten, Profisport, Gesundheits- und Bildungswesen sowie Politikbetrieb sind schwierig. Man mag sich fragen, mit welcher Qualifikation Friedrich Merz bei Black Rock anheuerte. Aus der Politik heraus betrachtet sehen Unternehmer und Manager wie Schmalspurritter aus, Künstler wie weltfremde Träumer, Mediziner wie sterile Fachnerds. Politiker müssen Generalisten sein. Naturgemäß rollen sich die Fußnägel jedes Fachmenschen nach oben, wenn er Politiker über sein Sachgebiet reden hört. Natürlich versteht Krall mehr von Volkswirtschaft als die meisten Politiker. Mir gefällt sie auch nicht, die inhaltsfreie Wahlkampfrhetorik vieler Politiker, ebensowenig wie NLP-getrimmte Verkaufsphrasen von Strukturvertrieblern. Wer Politiker einmal persönlich getroffen hat, stellt verblüfft fest, dass sie hinter der Bühne viel eloquenter, flinker, charmanter und intelligenter wirken als auf der Bühne und vor der Kamera. Politiker, die ihre professionelle Prägung und Intelligenz in der medialen Öffentlichkeit verbergen, sind erwiesenermaßen erfolgreicher. Übrigens sollten Politiker nicht allzu attraktiv aussehen, um Erfolg zu haben.
These: „Früher hatten die Politiker noch Klasse.“
Wir alle gehen dem Rückschaufehler auf den Leim. Wehleidig verklären wir die heile Welt unserer Jugend, als wir im Fernsehen rhetorisch brillante Politiker bewunderten: Schmidt, Wehner, Strauß – echte Männer, die den Krieg noch erlebt hatten. Und heute? Annalena Baerbock, ein junges Mädchen mit akzenthaltigem Englisch, Kobolden in Tesla-Batterien und frisiertem Lebenslauf – da schaut man schonmal lieber auf die Schwächen, um sich selbst besser aussehen zu lassen. Wir erinnern uns zu gern an die lichten Glanzleistungen und vergessen charakterliche und kommunikative Fehltritte der Lichtgestalten genauso wie die vielen anderen Politiker hinter und neben ihnen, die (zurecht) in Vergessenheit geraten sind. Die drei Vorgänger Adolf Hitlers haben sich eher nicht mit Ruhm bekleckert und sind historisch kaum interessierten Menschen heute kein Begriff mehr. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Namen der häufig wechselnden Kanzler der Weimarer Republik und der Zeit des Ersten Weltkrieges nur wirklichen Freaks bekannt.
These „Berufspolitiker würden normalerweise von Hartz IV leben.“
Diese These ist so hypothetisch, dass sie als Antwort in Anlehnung an das abgedroschene Sprichwort „Hätte, hätte, Fahrradkette“ nicht mehr verdient als „Würde, würde, Magdeburger Bürde.“ Natürlich heißt die Börde, aber diese These hat eben nicht einmal Lyrik verdient.
These: „Leistungsschwache wählen Links, weil sie auf versprochene Transferzahlungen spekulieren.“
Dieser These stimme ich teilweise zu. Sie ist mir aber erstens in der Aussage zu undifferenziert und zweitens impliziert sie eine weitere These: Krall ist nicht der einzige, der gesellschaftliche Leistung mit Marktgefälligkeit gleichsetzt. Money-Coach Bodo Schäfer sagte einmal sinngemäß: Dein Einkommen zeigt an, welchen Wert du der Gesellschaft hinzufügst. Die meisten Deutschen würden jedoch die Frage, wer mehr Nutzen stiftet, eine Krankenschwester oder ein Goldhändler, ein Kita-Erzieher oder der Betreiber einer Abzock-Plattform ziemlich eindeutig beantworten. Auf eventuelle sozialdarwinistische Implikationen gehe ich hier gar nicht ein.
These: „Linke und Grüne sind geisteskrank“
Tatsächlich findet sich die Behauptung in Büchern von Markus Krall. Er verpackt diese Aussage natürlich unvergleichlich sympathisch und charmant, ganz im Gegensatz zu seiner Vordenkerin Ayn Rand, die glaubte, ihre vermeintlich objektiven Erkenntnisse literarisch durch negatives Überzeichnen ihrer Feindbilder transportieren zu müssen. Ich habe den Eindruck, Krall versteht die Motive Linker und Grüner einfach nicht – was ja nicht bedeuten muss, sie zu teilen. Postmaterialismus und altruistisches Mitgefühl für Andere (womöglich sogar Schwächere!) sind ihm offensichtlich fremd. Wer sich auf Spiral Dynamics versteht, der wird mit der Vermutung etwas anfangen können, dass Krall im orangefarbenen Meme blockiert ist und ein eventuelles Aufkeimen des grünen Memes bei sich mental unterdrückt.
Bin ich zu hart zu Krall?
Krall sieht manches schräg – doch ist das wirklich ein Grund, ihn einen Demagogen zu nennen? Vielleicht tue ich ihm Unrecht und er ist nur ein hochintelligentes Opfer des Dunning-Kruger-Effektes. Wie dem auch immer sei: Er ist verantwortlich für sein Tun und damit auch für die Ergebnisse seines Tuns, wenn er das was er tut, immer und immer wiederholt. Die Reaktionen seines Publikums lassen sich an den Kommentaren gut nachvollziehen. Menschen werden emotionalisiert und empören sich über unsere „System“-Politiker. Krall liefert ihnen vermeintlich gute Beweise dafür, dass (fast) jedes Mittel legitim wäre, sie der Macht lieber heute als morgen zu entreißen.
Warum bezeichne ich nicht auch Jürgen Todenhöfer als Demagogen? Immerhin hat der spätestens seit Gründung seiner neuen Partei nichts ausgelassen, um regierende Politiker als „Heuchler“ zu bezeichnen. Einerseits erfreut sich Todenhöfer weit geringerer Anschlussfähigkeit als Krall und andererseits sprach er im Wahlkampf 2021 davon, mit allen Parteien außer der AfD zu Koalitionsgesprächen bereit zu sein.
Egal was bei Krall wirklich dahinter steckt. Ich misstraue grundsätzlich jedem, der andere Menschen für dumm bzw. unzureichend gebildet oder für gemeingefährlich-bösartig hält und obendrein es für seine Pflicht hält (oder zum Geschäftsmodell macht), dies missionarisch breit zu treten. Ob es vielleicht nur um Gewinnung und langfristige Kundenbindung von Goldkäufern geht, ist eigentlich auch nicht mehr so wichtig.
Die Lösungsansätze von Krall sind an anderer Stelle bereits kritisch ausgewertet worden. Aus meiner Sicht liegen sie in einer extremen Vereinfachung gesellschaftlicher Strukturen, die der pluralistischen Realität und Komplexität der Welt in keiner Weise angemessen gerecht würden. Aber in gewissen Kreisen erfreuen sich seine Pläne einiger Beliebtheit. Und ich verstehe diese Leute. Sie wollen unser Land brennen sehen. Nicht weil sie böse sind, sondern weil sie fest daran glauben, das Land brenne längst und sie würden dringend als Feuerwehrleute gebraucht. Markus Krall nennt das „bürgerliche Revolution“.
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Ingo Drechsler (Montag, 07 Februar 2022 23:51)
So ganz kann ich nicht folgen. BUNDESKABINETT fast nur Juristen und Politologen. Naturwissenschaftliche Fächer, Dipl. Ings keiner. - Große Politiker im Nachkriegsdeutschland: Fritz Erler und dann die Geistesgrösse Carlo Schmidt. Jetzt wimmelt es im Bundestag von Teenagern. Und dann erst der letzte Berliner Senat.