Vorneweg zum Sinn des Ganzen
Warum ich von Unternehmercoach auf Politik gewechselt bin? Die Verantwortungskreise meiner Kunden und auch mein eigener haben sich immer mehr vergrößert. Es war nicht mehr gefragt und für mich auch nicht mehr vertretbar, unternehmerisches Seelenheil als Eskapismus aus der Gesellschaft zu lehren, nach dem Motto: „Wie du so viel Geld machst, dass du dich von allen Unannehmlichkeiten freikaufen kannst.“
Die Gesellschaft als Ganzes braucht eine Vision, damit sie nicht zerfällt. Ich möchte nämlich keine Lebenswelt hinterlassen, in der es vielleicht noch möglich ist, mit unternehmerisch verdienten oder ererbten Geld Genüsslichkeiten und Sicherheit zu kaufen, verschanzt hinter Betonmauern und Stacheldraht, bewacht von schwerbewaffneten Sicherheitskräften.
Ein viertel Jahrhundert zurück gespult
Vor 20-25 Jahren war ich ein Marktfundamentalist. Daher kann ich das Reizvolle an der Vorstellung gut nachvollziehen, dass alle Herausforderungen auf der Welt am besten durch marktgefällige Produkte von privatrechtlichen Unternehmen gelöst werden könnten. 1997, ich studierte Wirtschaftskommunikation, hörte am Vormittag eine VWL-Vorlesung über das Marktversagen bei der Errichtung von Leuchttürmen und diskutierte am Abend mit einem Professor die Privatisierung von Bundeswehr und Bundestag. Ich war libertär ohne das Wort zu kennen. Inzwischen hat sich das geändert, nicht etwa, weil ich Beamter oder Aktivist in einer NGO geworden wäre und meine Daseinsberechtigung notgedrungen über pseudopolitische Schwurbeleien definieren müsste, sondern weil ich mich so nah wie nur irgend möglich am Nabel der Praxis bewegt habe. Selbständig. Zuerst im Verkauf und im Marketing. Ich brauchte Leute, die zu meinen Produkten und Werbeversprechen passende Bedürfnisse und dazu das nötige Kleingeld hatten. Fand ich zu wenig, dann waren ich und meine Auftraggeber gerade zur falschen Zeit am falschen Ort – also gerade nicht im Sog der Magie des Marktes. Ortswechsel erforderlich. Unternehmensstrategie: Wo ist ein Habenwollen und wie docke ich mit aus Kundensicht überlegenen Innovationen an konstante Grundbedürfnisse, die nie erlöschen, an? Starke Marken schaffen das über einen längeren Zeitraum. Aber wie wird man starker Markt- und Markenführer? Das brachte mich zum Unternehmercoaching. Starke Marktführer wollen alle werden, aber kaum jemand sieht die Lösung dafür in einem Coaching. Ein brennendes Problem wie Kopfschmerzen wird lieber durch schnell wirkenden Medikamente bekämpft, als dass sich jemand auf ein 10-tägiges Meditations-Retreat begibt, welches am immer währendem Bedürfnis nach körperlich-psychisch-seelischer Integrität anzudocken versucht. Was ist wichtig und was ist dringend? Ganz selten ist es dasselbe.
Märkte regeln nicht das Wichtige. Sie regeln ausschließlich das Dringende.
Märkte reagieren auf Dringlichkeit: Wir brauchen schwere Waffen, um zu verhindern, dass unser Land von marodierenden Z-Horden überrannt wird. Oder nehmen wir lieber an den Zoom-Meetings teil mit Sabine Lichtenfels, Monika Alleweldt und Siegfried Essen, um die globale Frequenz des Friedens mit der Kraft unseres Geistes zu stärken? Die Seminarreihe kostet den Bruchteil einer einfachen Handfeuerwaffe. Wäre Selensky hier besser aufgehoben? Marktversagen? Warum geben Menschen lieber Geld für Drogen aus, anstatt sich Bücher von Rainer Zitelmann und Bodo Schäfer zu kaufen? Warum betrinkt sich ein Mann mit billigen Schnaps und schlägt seine Frau, anstatt mit ihr zur Paartherapie zu gehen? Marktversagen? Warum performen Nachhaltigkeitsfonds, die ethischen Richtlinien folgen, weniger gut als Investmentfonds mit KraussMaffei, fossilen Energieträgern, Währungs- und Edelmetall-Spekulationen im Portfolio? Sollte der Markt nicht die Welt retten? Hayek, Mises und Ayn Rand lebten in Zeiten, in denen das Gespenst des Sowjetreiches fast die halbe Welt in Angst und Schrecken hielt. Sie konnten sich mühelos in der Illusion sonnen, dass ihre Verantwortungskreise weitestgehend mit ihrem Wirkungskreisen im Einklang standen.
Adam Smith sah die unsichtbare Hand des Marktes im Übrigen auf überschaubaren Marktplätzen wirken und hatte noch keinen globalen Finanzkapitalismus im Blick, der für mehr als 95 % aller Transaktionen ohne direkten Bezug zur Realwirtschaft „verantwortlich“ ist. Realsozialistischer Staatsmonopol-Kapitalismus wäre nun in der Tat keine Alternative. Mir geht es hier mitnichten um Argumente für einen Sozialstaat, aber um eine plausible Antwort auf die Frage: Was wird aus jenen, deren finanzielle Möglichkeiten nicht ausreichen, um ihre Bedürfnisse zu decken? Was macht man, wenn sie sich mit Gewalt holen, was sie brauchen? Was empfehlen Libertäre jenen Menschen, die aus Regionen flüchten, die nicht mehr fruchtbar sind? Was verdient ein Security-Mann, der den ganzen Tag auf Zuflucht suchende Eindringlinge schießt und was kostet die Entsorgung von 100 Leichen pro Stunde? Wo gibt es Roboter zu kaufen, die diese Arbeit erledigen? Wie gut können sich durch erfahrene und/oder praktizierte Gewalt traumatisierte Unternehmer emphatisch auf volatile Märkte einstellen? Wie effektiv und effizient wäre eine Wirtschaft wirklich, die in solchen Umfeldern florieren soll?
Eine fertige Lösung habe ich nicht, empfehle aber jedem Marktenthusiasten, außer Hayek, Mises und Marx auch einmal Raworth, Brodbeck und Felber zu lesen und meinetwegen all das darin vorgeschlagene mit gut dargelegten Gründen zu verwerfen.
Kommentar schreiben