Weisheit oder Demagogie – manchmal nur schwer zu unterscheiden.

Wir kennen sie alle: Männer, die „Klartext“ sprechen, souverän sind, immer die richtigen Worte mit der richtigen Betonung und den richtigen Sprechpausen, die richtig Mimik und Gestik. Ja, es sind im wesentlichen Männer. Frauen fallen mir gerade nicht ein. Alte weiße Männer meistens. Ich werde sie gleich vorstellen. Bevor es losgeht: Es gibt eine Gerade auf der am einen Ende die Weisheit steht und am anderen Ende die Demagogie. Dazwischen gibt es Graustufen. Und mitunter ist nicht so klar zu erkennen, ob ein Mann ein Weiser oder Demagoge ist. Religionsführer werden gern von den einen für jene, von anderen für solche gehalten.

Janusz Korczak. Der als Henryk Goldszmit geborene jüdisch-polnische Kinderarzt, Buchautor, Pionier demokratischer Reformpädagogik und Waisenhaus-Leiter ist durch die Tatsache zur Legende geworden, dass er trotz der Möglichkeit, sich der Shoa zu entziehen, die ihm anvertrauten Kinder und Mitarbeiter des Waisenhauses auch auf ihrer letzten Reise in die Gaskammer nicht im Stich ließ. Bis heute werden seine belletristischen wie anekdotischen Veröffentlichungen als Inspiration für Kinderrechte, Pädagogik und radikalen Humanismus rezipiert. Zwei Spielfilme, mehrere Dokumentationen und weltweite Tagungen widmen sich seinem Werk. Er selbst sah sich immer als Diener an der Sache, die er als den einzigen Sinn seines Daseins betrachtete. Seine lebenspraktische Weisheit hätte er selbst nie an irgendeine Glocke gehangen, seine Tagebucheinträge von selbstironischem Humor zeigen einen zuweilen von Selbstzweifeln geplagtem, aber auch vom aufrechten Mitgefühl gegenüber den Männern der deutschen Besatzungstruppen im Warschauer Ghetto geprägten Menschenfreund. Wie viele andere kann auch ich noch 80 Jahre nach seinem Tod von ihm lernen: für den Umgang mit meinen Kindern, meiner Frau, meinen Kunden, Querdenkern, Marxisten, Libertären und meiner Unternehmensstrategie.

Dag Hammarskjöld. Der schwedische Sozialdemokrat wurde 1953 zum zweiten UN-Generalsekretär gewählt. Viele haben ihm das Amt nicht zugetraut: zu nachdenklich, zu weich, zu durchsetzungsschwach. Die Freilassung US-amerikanischer Gefangener des Koreakrieges nach hartnäckigen Verhandlungen mit Peking sollte sein Gesellenstück werden. In der Suezkrise stellte er innerhalb von 48 Stunden eine internationale Friedenstruppe mit 6.000 Soldaten zusammen. Seine Bemühungen zur Beilegung der Kongo-Krise nach der Ermordung von Premierminister Patrice Lumumba rief hingegen Kontrahenten auf den Plan: Am 18. September 1961 stürzte sein Flugzeug im Grenzgebiet zu Nordrhodesien (Sambia) ab. Ermittlungen werden seither immer wieder neu aufgerollt. Sicher ist inzwischen, dass die Maschine abgeschossen wurde. Posthum erschienen seine Tagebuchaufzeichnungen (Zeichen am Weg), die seine bis dahin öffentlich nicht bekannte tiefe Religiosität offenbarten.

Markus Krall. In einem Artikel habe ich den ehemaligen Sprecher der Geschäftsführung der Degussa Sonne/Mond Goldhandel GmbH und Buchautor als „sympathischsten Demagogen der Welt“ bezeichnet. Freilich kann es sein, dass es anderswo auf der Welt noch sympathischere Demagogen gibt. Für deutsche Verhältnisse ist er in der Tat ein Kuschelbär. Anders als scharfzüngige Demagogen, hat er eine ruhige, emphatische und auf smarte Weise gewinnende Ausstrahlung. Sein Fachwissen im Finanzwesen lässt auch eingefleischten Kennern von Manipulationstechniken nicht bemerken, wie der unauffällig über die Tischkante geschobene Halo-Effekt auch auf andere Wirtschaftsfragen und sogar die Staatspolitik strahlt. Gefangen in diesem Interaktionssystem folgen sogar Altlinke und Anarchisten seiner Diagnose, linksgrüner Wokeismus sei eine Geisteskrankheit, die sich pandemisch bis tief in CDU und FDP ausgebreitet hätte und die nur noch durch eine „bürgerliche Revolution“ zu stoppen sei. Andernfalls würden staatlich alimentierte „Fußtruppen der Antifa“ Deutschland im Säurebad des Adorno-Horkheimer’schen Kulturmarxismus endgültig auflösen. Ich musste nach der Krall-Lektüre erst einmal an der Ice-Bucket-Challange teilnehmen, mir dann die Haare mit einem Scheuerlappen aus dem Geräteschuppen frottieren, um anschließend zu prüfen, ob ich das so tatsächlich bei ihm gelesen hatte. Hatte ich.

Helmut Schmidt. Er ist der berühmteste und langjährigste Altkanzler, der heute gern von Konservativen als Lichtgestalt einer leider (zumindest in Deutschland) ausgestorbenen Politiker-Generation gefeiert wird – als letzten Mohikaner, der im Deutschen Fernsehen noch bis weit in die Nullerjahre Friedenspfeife rauchen durfte. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe Schmidts scharfsinnige geopolitisch weitsichtigen Ergüsse stets genossen. Schmidt gehörte jener Generation von Männern an, von denen heute nur noch ganz wenige leben: Sie mussten keine Empathie heucheln oder gar haben, mussten sich nie versichern, richtig verstanden zu haben bzw. zu werden, brauchten keine Brücken zum Gesprächspartner aufzubauen, denn dieser hatte gefälligst dankbar zu sein, dass man sich überhaupt die Zeit nehme und herablasse. Gegenfragen oder gar eigene Wortbeiträge wären ein Sakrileg gewesen. Schmidts Lebensleistung soll hier keineswegs in Abrede gestellt werden. Die für mich jedoch eindrucksvollste Anekdote von und mit ihm stammt aus seinen jungen Jahren und sie zeigt Demut und Menschlichkeit, wie er sie sich später öffentlich – als Kind seiner Generation und wohl auch als Form des Umgangs mit tiefen Verletzungen – nie mehr eingestanden hatte: Es begab sich am 29. September 1953. Helmut und Loki fuhren Auto, als im Radio die Nachricht vom Tod Ernst Reuters verkündet wurde. Schmidt musste unverzüglich an den Seitenstreifen fahren, aussteigen und sich übergeben.

Peter Scholl Latour. Der 2014 verstorbene Publizist galt als unangefochtener Islam-Experte. Im Anschluss an die Terroranschläge vom 11. September 2001 durfte er in keiner Talkrunde fehlen, die etwas auf sich hielt. Schon in den 1980er bereiste er die zentralasiatischen Sowjetrepubliken und ließ sich ins Gedenkbuch schreiben: „Moslems sind wir seit 1000 Jahren, Kommunisten erst seit 70.“ Von diesem Kaliber waren viele seiner Sprüche, mit denen er seinen Gesprächspartner signalisierte: „Ich kenn mich aus, wie einfache Menschen und die Machthaber auf der ganzen Welt funktionieren. Du naives Dummchen kennst nur das mir um Längen unterlegene Schulwissen.“ Frauen und jüngere Männer hatten als Zeichen der Dankbarkeit die Augen und Münder weit aufzureißen und staunend zu raunen. Als Gegenleistung durfte man Monologen a la Käpt’n Blaubär beiwohnen.

Wer es vermag, gute Geschichten zu erzählen, verfügt gleichwohl über eine inspirierende Gabe. Weisheitslehrer – heißen sie nun Siddhartha Gautama oder Jesus Christus – müssen sie beherrschen, um ihre Schüler zu erreichen. Der Übergang zu Religions- und Sektenführern ist fließend und führt auf direktem Wege vom Pol der Weisheit weg zur Demagogie.

Jiddu Krishnamurti. Der 1986 in Kalifornien verstorbene indische Philosoph wurde in seinen jungen Jahren Mitglied einer theosophischen Gesellschaft und als kommender Messias gefeiert. In den 1920ern wandte er sich von der Theosophie ab, einer tendenziell, zeitweise sogar außerordentlich demagogischen Bewegung. Seinen Schriften und Vorträgen wohnt etwas durchaus weises inne. Sein Auftreten, seine Sprache, seine nonverbalen Signale, lassen zumindest für mich kaum demagogische Züge erkennen.

Rudolf Steiner. Von der Theosophie ausgehend, entwickelte er eine Geisteslehre, die er auf seine eigenen hellseherischen Einsichten zurückführte und ab 1910 Anthroposophie genannt hat. Sie erhebt einen universalistischen Anspruch, umfasst Esoterik, Medizin, Architektur, Bildung, Wirtschaft bis hin zur Staats- und Gesellschaftslehre. Sie erfreut sich auch heute zahlreicher Anhänger vor allem in Landwirtschaft und Heilkunde. Prominente Anhänger waren der Künstler Joseph Beuys, dm-Gründer Götz Werner und ist Ex-Bundesinnenminister Otto Schily. Die Impfskepsis der Querdenker geht im wesentlichen auf Lehren von Rudolf Steiner zurück. Von seinen Anhängern als Universalgelehrter betrachtet, wurde er demgemäß auch von ihnen zu jedem erdenklichen Thema nach seiner Einschätzung befragt. Seine zuweilen polarisierenden Antworten wurden sodann als Wahrheit abgeheftet – ein sehr starkes Indiz für den deutlichen Ausschlag am Demagometer.

 

Man könnte jetzt noch zahlreiche weitere „spirituelle Meister“ wie Sri Shinmoy, Maharishi Mahesh Yogi, Osho, jede Menge Politiker und Staatsmänner unter die Lupe nehmen. Mao Zedong, Envar Hoxha und Kim Il Sung nahmen für sich in Anspruch, nicht nur Volkstribune, sondern auch philosophisch-theoretische Vordenker zu sein und wurden von ihrer Gefolgschaft zumindest teilweise auch als solche angenommen. 

 

Ein ganz einfaches Kriterium, mit dem Demagogie von Weisheit zu unterscheiden ist, ist jenes der Ausprägung von Demut, die vor Selbstüberhöhung, ja jeglicher Selbstüberschätzung schützt: Krall, Latour, Osho, Steiner, auch Gandhi – haben sich (zuweilen bis dauerhaft) zu Aussagen hinreißen lassen, in denen sie ihr Kompetenzfeld mitunter weit überschritten hatten bzw. noch immer überschreiten. So etwas ist bei Korczak, Hammarskjöld, Goenka oder Krishnamurti schlicht nicht vorgekommen. Wirkungs- und Verantwortungskreis standen bei ihnen im Einklang. Weisheit befreit Menschen, Demagogie macht abhängig.

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Kommentare: 2
  • #1

    Markus Krall (Donnerstag, 19 Januar 2023 00:41)

    wo haben Sie denn die Stelle gefunden, dass ich eine BEWAFFNETE bürgerliche Revolution für sinnvoll halte? von dem kleinen Beiwort "bewaffnet" wußte ich nämlich bisher selber nichts. Vielleicht ist ja ihr innerer Demagoge mit Ihnen durchgegangen als Sie das geschrieben haben.
    Meine Idee einer Revolution ist nämlich gewaltlos nach dem Muster der DDR 1989.

    Beste Grüße, M Krall

  • #2

    Klaas Kramer (Donnerstag, 19 Januar 2023 21:21)

    Möchte nicht ausschließen, dass ich einen kleinen Demagogen in mir noch nicht restlos bezwungen habe. Ich arbeite daran.

    Tatsächlich steht es nicht wortwörtlich drin, daher habe ich den Text geändert.
    Hab mir die Quelle angesehen, um zu prüfen, wie sich das in meine Erinnerung einschleichen konnte und habe einen Verdacht:
    „Einige Tausend zu allem entschlossene, gewaltbereite, ideologisierte Fußtruppen der Antifa, verstärkt durch ein Heer gewaltbereiter Islamisten, stehen dann gegen die bürgerliche und freiheitliche Ordnung in Europa (…) Dann stellt sich aber auch die Frage nach der Konterrevolution. Es stellt sich die Frage nach der bürgerlichen Revolution gegen die neofeudalistischen Sozialisten. Es stellt sich die Frage, ob wir eine Herde von Schafen sein sein wollen oder ob wir Mittel und Wege finden, uns eben nicht zur Schlachtbank führen zu lassen.“ (Markus Krall, Die bürgerliche Revolution, Stuttgart 2021)

    Vielleicht gehe ich tatsächlich zu weit, das Gegenteil von „Schaf sein“ als einen bewaffneten Kampf zu interpretieren. Dass mich das Bild an Goebbels erinnert, tut nichts zur Sache.
    Gegenüber Islamisten kann ich mir jedenfalls keinen erfolgreichen gewaltlosen Widerstand vorstellen.
    Wenn ich Ihrer Bestandsaufnahme zur Lage der Nation folgen würde, stünde ich ohne Zögern für den bewaffneten Kampf an Ihrer Seite bereit.
    Aber ich folge Ihrer Bestandsaufnahme nicht. Sollte die Geschichte mich eines besseren belehren, steht mein Angebot.

    Herzliche Grüße, Klaas Kramer